Und plötzlich eine Biegung im Weg …
Im Jahr 2009, im Alter von 59 Jahren, erkrankt Inge Wuthe zum dritten Mal an Brustkrebs. Sie verliert eine Brust. Bewusst und mutig geht sie ihren Weg zu sich selbst. Die jährliche Untersuchung: kalte Einsamkeit in der Umkleidekabine. Herzklopfen. Feuchte Hände. Ich schau in den Spiegel. Hab angstvolle Kinderaugen. Warum fällt mir der Begriff „tapfer” ein? Dann die Mammografie. Es tut weh, hab so viele Narben in meinen Brüsten. Ich beiße fest die Zähne zusammen.
Wieder in der Kabine. Ich ziehe mich langsam an. Warten. Irgendwie ist die Luft zu dünn zum Atmen. Ich werde aufgerufen. Die Ärztin schaut mich mitfühlend an. Es gibt
da einen suspekten Befund … abklären … MRT … Biopsie … Termin vereinbaren …Es muss nichts Schlimmes sein …
"Machen wir doch zur Sicherheit eine Biopsie"
In mir schlägt eine Tür zu. Ich will das alles nicht hören. Allein die Möglichkeit raubt mir schon die Hoffnung. Ich hatte doch schon zweimal Krebs. In beiden Brüsten. Das reicht doch, oder?
Ein paar Tage später liege ich in der Röhre. Fühle mich ausgeliefert, fremdbestimmt. Ja doch, ruhig atmen. Warten Sie bitte draußen. Ein Arzt, der sich nicht sicher ist. Ich glaube nicht, dass da was ist. Aber vielleicht machen wir doch zur Sicherheit eine Biopsie. Wir? Das wird ganz allein mein Part, mein Lieber! Eine Woche muss ich warten. Die Betäubung lässt nicht nach.
Die Biopsie war das Schlimmste, was ich jemals erlebt habe. Die Spritze in meiner Brust, die ihre Wirkung verfehlte. Wohl zu viele Narben. Zehn Gewebeproben werden aus meiner Brust gestanzt. Ich beiße mir die Lippen blutig vor Schmerzen. Tränen, lautlos. Tapfer sein! Die Ärztin nimmt mich in den Arm. Es tut ihr so leid. Bin regelrecht traumatisiert. Fühle mich wie ein Gewaltopfer. Angstnasse Haut.
Drei Tage später der Anruf. Der Befund ist bösartig. Operation einleiten. Überweisung holen. Bodenloser Fall ins Nichts. Ich wollte doch noch so viel … Inge! Tapfer sein! Zieh das durch!
Ich werde meine Brust verlieren
Vorgespräche in der Uniklinik und im Elisabeth-Krankenhaus. Immer wieder Untersuchungen. Tastende Hände auf meiner Brust. Dringende Empfehlung: Ablation, Amputation. Habe ich eine Wahl?
Anfang Dezember. Im Krankenhaus. Der Gang zum Schafott. Wieder eine Serie von Untersuchungen. Blut. Herz. Lunge. Und meine Brüste. Noch kann ich sie so nennen. Morgen ist es vorbei mit dem Plural. Abends stehe ich vor dem Spiegel. Versuche Abschied zu nehmen. Ich kann es mir nicht wirklich vorstellen. Berühre meine rechte Brust. Fühle mich ein Stück verraten. Ohne dass sie mir ein Zeichen gegeben hat, ist da etwas gewachsen, das mein Leben bedroht. Tränen. Trauer. Verzweiflung. Und ganz viel Angst. Es ist ja nicht nur, dass ich meine Brust verlieren werde. Was, wenn der Krebs gestreut hat?
Nein, Frau, keine Drehbücher schreiben. Schritt für Schritt da durch! Trotz Schlafmittel liege ich wach. Kann meine dunklen Gedanken nicht vertreiben. Am nächsten Morgen wieder ein Beruhigungsmittel. Ich habe alles runtergefahren. Meinen Mut, meine Hoffnung. Mein Atem geht auf Zehenspitzen.
Dann werde ich abgeholt. Über den langen Gang. In den Aufzug. Die Schwester drückt tröstend meine Hand, die wie ein zerzauster Vogel auf der Bettdecke liegt. Mein Lächeln ist klein und wund. Dann die erlösende Narkose. Ich tauche ab.
Irgendwann blinzele ich ins Erwachen. Für einen Moment diese barmherzige Orientierungslosigkeit. Doch dann knallt mich die Realität an. Etwas ist vorbei. Ich bin jetzt anders. Zaghaft berühre ich meinen Krisenherd. Spüre den Verband. Und sonst nichts. Keinen Hügel, eine flache Ebene. Diese watteweiche Müdigkeit ist gnädig zu mir. Lässt mich im seichten Gewässer eines Zwischenreichs schwimmen.
Warten auf das Ergebnis der histologischen Untersuchung. Ich überbrücke die Zeit in einer merkwürdig stoischen Ruhe. Da muss ich jetzt auch noch durch. Hab doch schon ein Stück des Weges geschafft. Obwohl er mühsam und steinig war. Nach drei Tagen endlich das Ergebnis: keine Metastasen. Mein Wächterknoten war „sauber”.
In der Dunkelheit glimmt ein Licht
Es ist unglaublich! Freude, Dankbarkeit, Hoffnung. Wenn die verlorene Brust der Preis für mein Weiterleben ist, will ich das jetzt annehmen. Beim ersten Verbandwechsel ein Anflug von Panik. Ich schaue schnell aus dem Fenster und hänge meinen Blick in die kahlen Baumwipfel da draußen? Nein. Tief durchatmen und hinschauen. So bin ich jetzt. Eine lange rote Narbe quer über meinen Brustkorb. Anders bin ich nicht mehr zu haben.
In den nächsten Tagen finde ich manchmal mein Lachen wieder. Meine Kraft, um die ich doch weiß. Ich will leben! Im Abschlussgespräch vor der Entlassung noch ein heftiger Schock. Bei der weiteren histologischen Untersuchung wurde ein zweiter, bislang unentdeckter und hochaggressiver Knoten gefunden. Aufgrund eines ungünstigen Eiweißwertes empfiehlt die Tumorkonferenz eine Chemotherapie und eventuell noch eine Bestrahlung.
Das ist so gemein! Da habe ich der Amputation zugestimmt, weil dann keine Nachbehandlung mehr notwendig sei. Und jetzt doch? Es ist die schwerste Entscheidung, die ich jemals zu treffen hatte. Nach einer Woche mit schlaflosen Nächten und zermürbenden Gedankenschlingen habe ich mich dagegen entschieden. Will nicht noch tiefer in die Katakomben meiner Ängste. Mein Ertragenkönnen hat hier eine Grenze.
Fast zwei Jahre sind seitdem vergangen
Die Wunde meiner fehlenden Brust ist verheilt. Die in meiner Seele schmerzt noch immer. Ich fühle mich unvollständig. Nein, ich bin unvollständig! Und in meiner Weiblichkeit tief gekränkt. Ich starre allen Frauen auf die Brüste. Überall zwei makellose Hügel. Im Sommer ist es besonders schlimm. Sie quellen aus T-Shirts, Blusen, Kleidern. Und ich weiß um meinen jämmerlichen Schaumstoffhügel in betrügerischer Absicht!
Doch, ja, ich habe mich getraut. Am Nacktbadestrand auf Kreta. Nach heftigen inneren Kämpfen ein paar Mal vom Strand ins Meer gegangen. Den Blick eisern an den Horizont geheftet. Ich mute mich zu. Bin ich eine Zumutung? Bloß keinen Blicken begegnen. Voller Scham. Mit einer Portion Trotz. Und niemals selbstverständlich!
Aber da will ich hin! Mich endlich wieder in die Sauna trauen. Mich nicht mehr schämen und verstecken müssen. Mit all meinen Facetten bin ich doch mehr als nur die Frau mit den Narben und der fehlenden Brust! Ich möchte das Leben wieder einladen. Aber ich muss ihm wohl entgegengehen, um ihm zu begegnen. Behutsam mache ich mich auf den Weg.
Neue Wege wagen?!
Aus vielleicht
wird später
und irgendwann
wahrscheinlich nie,
wenn ich nicht jetzt
jetzt sage
und den Augenblick
beim Wort nehme.
Aktfoto-Shooting
Knapp zwei Jahre später wurde ich auf eine Anzeige im Magazin von Lebenswert e.V., einer Initiative für krebskranke PatientInnen in Köln, aufmerksam. Gesucht wurden krebsbetroffene Frauen für ein Aktfoto-Shooting im Studio eines Kölner Fotografen. Diese Aktion war als Ermutigung gedacht für den offenen Umgang mit der verletzten Weiblichkeit.
Ich zögerte lange, und dann habe ich mich getraut! So viel Zaudern und Zögern. Auf was hatte ich mich da eingelassen? Ein Aktfoto-Shooting! Mich mit meinem verwundeten Körper zeigen? Da habe ich ihn fast zwei Jahre versteckt, getarnt, kaschiert. Mein geheimes Wissen. Und so viel Scham und Trauer. Wo nehme ich diesen Mut her? Doch, ja, ich will etwas verändern. Und vielleicht ist das jetzt eine Chance. Ich will es wenigstens versuchen!
Mit klopfendem Herzen stehe ich vor dem Haus. Drücke auf die Klingel. Freundliche Begrüßung. Pfefferminztee. Eine nette Visagistin tupft mir etwas Leben ins Gesicht. Dann stehe ich im Bademantel und himmelblauen Schlappen in einem Fotostudio mit riesigen schwarzen und weißen Wänden. Die chromfarbenen Augen der Scheinwerfer sind auf mich gerichtet. Ja, dann lass mal sehen, sagt der Fotograf Gerhard Zerbes mit der Kamera im Anschlag, freundlich mit ermunterndem Unterton.
Die Kamera klickt unentwegt. Ich bin so konzentriert, dass mir die Scham irgendwie abhanden kommt. Spielerisches Experimentieren mit Requisiten. Seifenblasen. Kugeln. Tücher. Eine Federboa. Es beginnt, mir Spaß zu machen. Die Atmosphäre ist heiter und sehr selbstverständlich. Zwischendurch immer wieder Pausen, in denen wir die Fotos anschauen. Weiter: Neue Bilder. Andere Posen. Bewegung und Stillstand. Das Spiel mit Licht und Schatten. Keine Angst mehr. Ich scheine zu wachsen. Die Zeit hat sich aufgelöst. Es gibt sogar Bilder, auf denen ich mich mag. Staunen. Ein neuer Blick auf mich. Freude.
Irgendwann ist das Shooting zu Ende. Ich verlasse den geschützten Raum des Studios. Blinzele in die Herbstsonne, atme tief die kühle Luft ein. Ich spüre den Boden unter den Füßen. Mein Kopf ist noch ein bisschen in den Wolken. Ich gehe sehr aufrecht. In mir ein übermütig hüpfendes Selbstbewusstsein. Und ich bin mächtig stolz auf mich, dass ich mich getraut habe!
Zwei Wochen nach dem Shooting gehe ich noch einen Schritt weiter! Ich wage etwas, was für mich seit zwei Jahren kein Thema mehr war. Und, wie ich hoffe, auch in Zukunft keines mehr sein wird. Ich habe einen ganzen Tag in der Sauna verbracht! Mit einer Freundin an meiner Seite und erst einmal nur unter Frauen, doch ohne Versteckhandtuch über der fehlenden Brust!
Ich fand endlich den Mut, mich zuzumuten. Und meine anfängliche Unsicherheit wich der Erfahrung, dass meine Drehbücher, die ich vorher geschrieben hatte, überflüssig geworden waren.
Dieser Bericht ist zuerst erschienen in: Christel Schoen, Hrsg. Alles ist möglich - auch das Unmögliche. Wir veröffentlichen ihn mit freundlicher Genehmigung in leicht veränderter Form.
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