Vom Krankwerden, Gesundwerden und Lautwerden. Die Krankheit annehmen – als Ärztin?
Wenn eine Ärztin krank wird, passt das oft nicht ins Bild. Die Klarheit und das Wissen ihrer beruflichen Rolle scheinen nicht mit ihrem persönlichen Erleben als Patientin in Einklang zu stehen. Welche Dynamik innere Widerstände, der Kampf um die Akzeptanz und (Selbst-)Erkenntnis entwickeln, erfährt Dr. med. Annette Jasper am eigenen Leib. Sie hat sich große Entwicklungsschritte erlaubt und berichtet, wie sie gesund und – fast wie nebenbei – eine noch bessere Ärztin geworden ist.
„Sie haben Krebs.“ Dieser Satz klingt wie ein Todesurteil. Das Ende aller Träume, der Anfang eines weiten, beschwerlichen Weges. Die meisten Menschen haben Angst vor einer solchen Diagnose. Das ist nur natürlich, verbinden wir doch mit ihr lange, schmerzhafte Therapien.
Vor unserem inneren Auge sehen wir Menschen mit fahler Gesichtshaut, dünne Körper ohne Muskeln und Köpfe ohne Haare.
Auch mir ist es so ergangen, als ich vor acht Jahren die Diagnose Darmkrebs mit Lebermetastasen erhalten hatte. Die Diagnose hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich mir nichts Schlimmeres vorstellen als eine derartige Erkrankung. „Warum ich?“, „Was habe ich falsch gemacht?“, „Das ist ungerecht. Ich habe doch zwei kleine Kinder. Das darf nicht sein.“ So waren meine ersten Gedanken. „Die Ärzte irren sich sicherlich. Die haben die Proben im Labor vertauscht.“ Das kam als Nächstes. Irgendwann jedoch ist auch bei mir angekommen, dass alles seine Richtigkeit hatte. Ich war eine Krebskranke.
Rückblende
Immer wollte ich mehr. Ich wollte nicht nur einen Job. Ich wollte einen Beruf, der meine Berufung ist. Ich wollte nicht Familie oder Karriere, natürlich nicht. Ich wollte beides. Ich wollte kein langweiliges Leben. Nein. Ich wollte das volle, das satte, das ganze Leben. Das hatte ich nun. Denn nun begann ich zu begreifen, dass das „volle Leben“ das gesamte Leben mit allen Facetten war. Das ganze Leben besteht nicht nur aus der Sonnenseite, sondern auch aus der Schattenseite, dem Sturm und auch dem Orkan. Das Leben hat viel mehr zu bieten, als ich mir damals vorstellen konnte. Sehr schnell habe ich verstanden, dass ich die Situation nun anzunehmen habe. Ich begann, neue Glaubensmuster zu entwickeln, und habe mir vorgenommen: Ich werde wachsen, werde neue Erfahrungen machen. Es werden Erfahrungen dabei sein, auf die ich gern verzichten würde. Doch ich hatte die Ahnung, dass das Leben mehr mit mir vorhat. Wachstum tut weh, und ich sollte nun weit über mich hinauswachsen. Ich fing an, neue Überlebensstrategien zu entwickeln. Ich stellte mir vor, dass nur die ganz besonderen Menschen eine solche Diagnose bekommen. Es sind die Menschen, die spezielle Fähigkeiten haben oder solche entwickeln sollen. Ich fing an, mich als etwas Außergewöhnliches zu fühlen. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich habe mich nicht hochnäsig oder eingebildet gefühlt. Nein, ich war „am Boden“ und machte mich von dort aus auf die Suche nach dem Besonderen in mir, denn ehrlich gesagt: Bis dahin fand ich mich ziemlich langweilig. Nun bekam ich also die Lizenz zum Wachstum – oder habe ich sie mir selbst gegeben? Nur war mir nicht klar, wohin ich mich entwickeln sollte.
Therapiezeit: wieder gesund werden
Zunächst einmal hat mich die Therapie ziemlich beschäftigt. Außerhalb der Therapie hatte ich viel damit zu tun, allen zu zeigen, wie „normal“ mein Leben ist. Es sollte nach außen gar nicht zu sehen sein, dass ich krank war. Als wenn dies ein Makel wäre. Da gab es Schuldgefühle, die mir sagten: Irgendetwas musst du falsch gemacht haben. Darmkrebs – du musst dich vollkommen falsch ernährt haben. Hinzu kam das Klischee: „Der Arzt muss gesund sein.“ Der Arzt hat keinen Schnupfen, kein seelisches Problem. Er hat für seine Patienten da zu sein – wie ein Roboter?
„Im Geben ist mehr Energie und Glück enthalten als im Nehmen.“
Meine Patienten ahnten zu dieser Zeit nicht, wie viel Kraft es mich gekostet hat, in der Praxis zu sein. Ich habe all meine Energie zusammengenommen, um mich auf sie zu konzentrieren, ihnen zu helfen. Und dabei habe ich festgestellt, dass ich aus diesem Geben Energie bekommen habe. Ich fuhr täglich in die Praxis und gab mein Bestes – auch wenn es mich Überwindung kostete. Zu Hause zu sein und mich auf meine Krankheit zu konzentrieren, kam für mich nicht infrage.
„Ich wollte das volle, das satte, das ganze Leben.“
Während der Therapiephasen war ich damit beschäftigt, meinen Körper zu regenerieren. Ich hatte volles Vertrauen in ihn. Ich gab ihm Vitamine, Mineralien, Bewegung und Ruhe. Ganz langsam kam er wieder zu Kräften.
Betroffen, tatkräftig und kreativ.
Als ganzheitlich orientierte Zahnärztin musste ich feststellen, dass es keine Zahnpflegeprodukte gab, die auf die sensible, strapazierte Schleimhaut nach der Chemotherapie abgestimmt sind. Mit meinem Mann und einer Mitarbeiterin habe ich Schritt für Schritt die vegane Mundpflege-Marke „Muskanadent“ entwickelt – für meine Patient*innen und für mich. Damals habe ich noch gesagt: „… und wenn es das Letzte ist, was ich tue.“ Denn wie Sie sich vorstellen können, war es alles andere als einfach. Aber: Diese Entwicklungsarbeit hat meine Energie und Konzentration gebündelt. Ich fühlte mich frei. Ich tat etwas Kreatives. Und auch das hat mir wieder Energie gegeben. Ich entdeckte eine neue Facette. Vor der Krebserkrankung hätte ich niemals den Mut gehabt, ein Produkt zu entwickeln. Erstens: Ich habe den Bedarf gar nicht gesehen. Und zweitens hätte ich die vielen Risiken betrachtet und mich dagegen entschieden. Aber mit meiner Krebserfahrung fühlte ich mich berufen, eben genau dies zu tun. Wer sollte mich da bremsen? Niemand.
Heilung von innen
Als ich anfing, mich mit meinem Innersten zu beschäftigen, kam ich in die Heilung. Schon im Krankenhaus hatte ich angefangen zu meditieren. Früher war mir das immer zu langweilig. Doch im Krankenhaus, nach der Operation konnte ich nichts anderes tun. Häufig lag ich wach, konnte nicht schlafen. Ich fing an zu spüren. Die Medikamente haben mich wach gehalten – das ist auch später daheim noch eine Weile so geblieben. Manchmal wusste ich nicht: Bin ich noch in der Klinik oder daheim? Doch das Wachsein störte mich nicht. Ich konnte mir Gedanken machen. Irgendwann habe ich angefangen, diese Gedanken aufzuschreiben. Ich merkte, dass ich auf diese Weise mein Leben selbst gestalten konnte, dass das Leben nicht einfach so abläuft. Vielmehr konnte ich sehen, dass sich in meinem Leben alles um mich dreht und dass ich die Richtung und Schwingung bestimmen konnte, sobald ich nur bewusster darauf achtete. Das war es: Für mich ging es um Bewusstheit, Wahrnehmung und Achtsamkeit.
Die Krankheit hat mich gelehrt, bewusster zu leben, achtsamer mit mir selbst und den Menschen um mich herum zu sein. Früher wusste ich aus dem Verstand heraus: „Nichts ist selbstverständlich.“ Doch nun wusste ich es mit dem Herzen. Die Dinge, das Leben selbst können sich innerhalb einer Sekunde verändern. Gefühle sind die Sprache unserer Seele. Leider verstehen nur wenige von uns diese Sprache. Seit meiner Erkrankung übe ich mich in dieser Sprache und gebe meiner Intuition mehr Raum.
Mein Glaubensbekenntnis
Ich glaube an mich selbst!
„Geht nicht“ gibt es nicht, und „Kann ich nicht“ liegt tot daneben.
Was ich nicht kann, das lerne ich!
Und wenn es bislang noch keiner geschafft hat, dann bin ich die Erste, denn dies ist mein Leben, hier bin ich der Chef.
Die Welt und die Menschheit brauchen mich, ich bin vollkommen – denn ich bin ein Teil von Gott, ein Teil vom Ganzen.
Und ich erwarte nur das Beste vom Leben!
Annette Jasper (aus Yoga sei Dank, S. 14)
Als Ärztin selbst betroffen – vollständiger werden
Wenn ich heute gefragt werde: „Was bedeutet die Krankheit für Sie?“, so antworte ich: „Die Krebserkrankung ist ein Weltenöffner für mich gewesen.“ Dank „Krebs“ habe ich mich auf den Weg gemacht. Meine Krankheit hat mir gezeigt, dass ich mehr kann, dass ich mir mehr erlauben darf und dass ich mehr erreichen kann. Ich brauche mich nicht einzuschränken. Ich darf mehr Facetten von mir entdecken und auch leben. In mir ist mehr drin als nur eine Zahnärztin. Mein Leben ist heute reicher, voller und bunter als vor der Erkrankung. Ja, es ist auch turbulenter, gefühlvoller und lauter, denn ich bin lauter. Ich habe gelernt, für mich einzustehen, zu sagen, was ich meine. Dies tue ich in meiner Partnerschaft und in der Praxis, gegenüber meinen Patient*innen.
„Die Krebserkrankung ist ein Weltenöffner für mich gewesen.“
Natürlich habe ich auch vor meiner Erkrankung viele seelische Probleme meiner Patient*innen gesehen, die sich in meiner Praxis in Form von Zahnschmerzen gezeigt haben. Doch früher war ich der Meinung, dass mich das nichts angeht. Heute spreche ich meine Patient*innen darauf an. Ich sage, was gesagt werden muss - um dem anderen mehr und besser zu helfen. Ich bin heute eine bessere, eine vollständigere Ärztin als vor acht Jahren. Wer selbst Leid erfahren hat, kann das Leid des anderen spüren und nachempfinden. Um mehr Wissen zu erlangen, habe ich mir erlaubt, noch einmal zu studieren. Ich habe Ayurvedamedizin studiert, das Wissen vom Leben. Ayurveda versteht den Menschen als Einheit von Körper, Geist und Seele. Alle drei Bereiche wirken miteinander und bedingen sich gegenseitig. Welch eine wundervolle Erfahrung, Wissen einzusaugen – ganz ohne Druck, ohne den Stress von Lernkontrollen wie früher. Auch dies war Freiheit. Der Krebs war wie ein guter Freund, der sagt: „Wach auf. Ist dies das Leben, das du führen möchtest? Denk daran: Du kannst es selbst gestalten.“
Meditieren und Schreiben – als Medizin?
Seit der Krebserkrankung entdecke ich immer wieder neue Facetten in mir. Ich sehe tiefer und erlaube mir, mehr zu lernen und zu spüren. Ich habe auch mehr Mut, Dinge einfach auszuprobieren. Was soll schon passieren? Was, wenn es mir sogar Spaß macht? Was, wenn ich es kann? So habe ich mit dem Schreiben angefangen. Ich habe erst einmal einfach für mich geschrieben und gemerkt, dass es mich befreit. Heute gehört Schreiben zu meinem Alltag. Mein Tag beginnt sogar mit Schreiben. Schreiben und Meditation sind meine Medizin geworden. So ist das Buch „Yoga sei Dank“ entstanden. Zwei weitere Bücher folgten - und das innerhalb von nur drei Jahren … Wenn Sie sich jetzt fragen: „Kommen da noch mehr?“, kann ich nur antworten: „Natürlich. Denn ich mache so lange weiter, wie die Worte geschrieben werden wollen.“
Ich wünsche mir für Sie, dass es Ihnen auch so geht. Ich wünsche Ihnen, dass Sie in Chancen und Möglichkeiten denken und dass Sie sich erlauben, sich weiterzuentwickeln - auch wenn Sie noch nicht wissen, wohin dies führen soll. Für mich hat der Satz meiner lieben Oma „Alles ist für irgendetwas gut“ eine ganz neue Bedeutung gewonnen.
Weitere Informationen
- Annette Jasper, Yoga sei Dank: Die heilsame Kraft von Yoga und Meditation. Komplettmedia (2019)
Wir freuen uns, wenn Patient:innen ihren individuellen und persönlichen Genesungsweg finden. Das ist ein Ausdruck des großen Heilungspotenzials in jedem Menschen. Gerne teilen wir diese Erfahrungen mit unseren Leser:innen, auch wenn persönliche Entscheidungen nicht immer auf andere Betroffene übertragbar sind. Sie entsprechen auch nicht in jeder Hinsicht einer konkreten Empfehlung der GfBK für Patient:innen in ähnlicher Situation. Wägen Sie sorgfältig ab, welche Impulse aus den Patient:innenberichten für Sie in Ihrer aktuellen Lage passend sind. Besprechen Sie diagnostische oder therapeutische Maßnahmen im Zweifel gerne mit unserem ärztlichen Beratungsdienst.