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© Renate Baum (Foto: © Kerstin Neuwirth)

Meine Krebsreise

Renate Baum in momentum 01/2024

Renate Baum war in ihrem Beruf als Supervisorin und Coach in Berlin selbstständig tätig, bevor sie nach Spanien aufgebrochen ist und hier vielfältige Beratungsangebote aufgebaut hat. Sogar eine ehrenamtliche Beratung für deutschsprachige Krebspatient:innen hat sie ins Leben gerufen, denn Sprachfähigkeit und Selbstwirksamkeit bei Betroffenen zu stärken, war für Renate Baum nach ihrer eigenen Krebserkrankung vor vielen Jahren ein wichtiges Anliegen. Von Bekannten hatte sie damals den Tipp bekommen, sich an die GfBK zu wenden, und sie hat unser Angebot intensiv genutzt: Persönliche Beratung, Informationen im Internet und die Teilnahme an vielen Veranstaltungen waren ihr Weiterbildungsprogramm zum Thema Krebs und Therapie.


Unter dem Namen „Phönix“ ist die von ihr mitinitiierte Selbsthilfegruppe gestartet, Zielgruppe: von Krebs betroffene Beraterinnen und Berater, die wie sie als Selbstständige mit einem Krankheitsausfall unter finanziellem Druck stehen und oft schon während der Therapiezeit wieder in den Beruf zurückkehren. Als sie Anfang des Jahres 2020 eine zweite Krebsdiagnose erhält, will sie vieles ganz anders machen als beim ersten Mal. Und plötzlich kommen mit der Viruswelle Einschränkungen auf den Klinikbetrieb und das Gesundheitswesen zu, die schwer erkrankte Personen besonders hart treffen. In düsteren Situationen meldet sich die Kreativität zurück.

Ich sitze an der Südwand. Hinter mir unsere Berghütte. Gebaut aus stabilen Feldsteinen. Solarpaneele. Zisterne. Die Januarsonne wärmt. Der Blick schweift über die nahen Hügel bis zum Mittelmeer, silbern glitzernd in der Morgensonne.

Neben mir Thermoskanne. Honigglas. Tasse. Und meine Lektüre: „Ein Riss im Stoff des Lebens“ von Verena Stefan. Die Erzählung ihrer 15 Jahre Leben mit Brustkrebs bis zu ihrem Tod. Mich faszinieren ihr filigraner, subtiler Schreibstil, ihre exakten sinnlichen Beschreibungen kleinster Körperregungen, Emotionen, Gedanken, Empörungen über die oft unangemessen übergriffige kanadische Schulmedizin. Im Moment geht es mir relativ gut mit meinen 70 plus. Und doch gehen meine Gedanken, angeregt durch das Buch in meinen Händen, zurück ins erste Coronajahr 2020, das Jahr von Brustkrebs II. Jetzt bin ich bereit, über den Schock meiner zweiten Brustkrebsdiagnose zu reflektieren, das Geschehen im Nachhinein zu verarbeiten, es zu integrieren und loszulassen.

Winterreise in die Heimat

Januar 2020. Ich reise zum 97. Geburtstag meiner Mutter nach Süddeutschland. Meine Mutter lebt noch allein und selbstständig in ihrer geräumigen Wohnung, mit Unterstützung von Rollator und Elektromobil. Es wird im kleinen Kreis gefeiert, mit uns über 70-jährigen „Kindern“, Enkel und Hund.

Von dort aus geht meine Reise quer durch die Republik in die Eifel, zu einer Trauerfeier in einem winterlichen Friedwald. Zum ersten Mal im Leben leiste ich mir ein Ticket in der 1. Klasse und genieße das bequeme, stressfreie Reisen. In Frankfurt am Main hole ich eine Freundin zur Trauerfeier ab und bleibe für eine Nacht. Anderntags fuhren wir in die Eifel. Auf den Höhen lag Schnee, die Straßen waren glatt, der Himmel blau, wir irrten durch das Labyrinth des Friedwalds. Uns bot sich ein unwirkliches Bild. Etwa 150, überwiegend weibliche Trauergäste stampften, sangen, summten, trommelten und begleiteten die verstorbene Freundin auf ihrer letzten Reise. Ein surreales Erlebnis im kalten Winterwald. Selten zuvor hatte ich eine solch überwältigende, emotionale und kreative Trauerfeier für eine 70-jährige Frau erlebt. Wunderbar und tröstlich.

Am nächsten Tag begann meine letzte Reiseetappe, Köln – Berlin. Zeit zum Nachdenken über das Erlebte. Wie stellte ich mir meinen eigenen Abschied vor? Wie, wo, mit wem, in welchem Land? Währenddessen reiste mein neuer Tumor bereits inkognito mit.

Eine folgenreiche Routine

Zwei Tage später die Routine-Krebsnachsorge, Mammografie, Sonografie. Dann die Lautsprecherdurchsage: „Frau Baum, würden Sie bitte noch einmal hereinkommen …“ Oh, oh. Alle Alarmglocken aktiviert. „Ich habe da leider etwas entdeckt …“ Mein Körpergedächtnis sendet ununterbrochen Alarmsignale. Nein! Nicht noch einmal dieser ganze Stress mit Ängsten, Zweifeln, Selbstvorwürfen, OP, Nachbehandlungen & Co.

Große Verunsicherung. Bei der Anfahrt zur Praxis ging mein Auto kaputt. Ich musste es auf einem nahen Supermarktparkplatz stehen lassen und hatte gleich das Gefühl eines schlechten Omens. Jetzt  überfluten mich Gefühle der Ohnmacht und Niederlage. Was läuft bloß in meinem Körper schief, gänzlich unbemerkt, unsichtbar, heimtückisch? Doch da gibt es noch ein Kämpferinnen-Gen. Hallo! Du weißt jetzt mehr als damals vor 14 Jahren. Also geh diesmal rational an die Sache ran, recherchiere, informiere dich, lies, google.

Noch am selben Vormittag entschließe ich mich für die Biopsie und zeitnah zu einem Termin für das Brust-MRT. Ich will schnell Klarheit, um handeln zu können. Bloß nicht wieder alles falsch machen wie beim ersten Mal. Brustkrebs I vor 14 Jahren. Aus fünf geplanten Krankenhaustagen wurden damals vier Wochen, inklusive Narkosefehler, OP-Fehler, Wundheilungsstörung, Infizierung mit einem Krankenhauskeim etc.

Das Auswertungsgespräch, der Verdacht bestätigt. Es ist Brustkrebs II. Trotz fortgeschrittenem Alter aggressive Form, gleiche Brustseite, links, da, wo das Herz ist. Meine innere Medizinkritikerin meldet sich: Haben durch die damaligen zwei verpfuschten OPs Krebszellen überlebt? Unangenehme Erinnerungen werden aktiviert. Traumatisiert verließ ich damals nach vier Wochen auf eigenen Wunsch das Krankenhaus. Wochenlange Nachbehandlungen, ein ganzes Jahr Antibiotika. Wegen der offenen Wunden waren weder Reha noch Strahlentherapie bzw. Chemo möglich. Ich benötigte damals ein Jahr, um mich zu erholen. In einer Stimmung völliger Resignation gab ich sogar meine Praxis als Supervisorin in Berlin auf.

Noch einmal Brustkrebs

Zurück ins Jahr 2020. Brustkrebs II. Der Rückflug nach Spanien, unserem Zweitwohnsitz, war gebucht. Sollten wir absagen? Ich beriet mich mit meiner Lebensgefährtin. Nein, wir fliegen. Ich brauche diese kurze Auszeit. Nachdenken. Mich mental vorbereiten. Telefonieren, organisieren.

Hah! Dann kam mir das Virus in die Quere. Auch das noch. Flugreisen wurden kompliziert, OP-Termine auf unbekannt verschoben. Ich kämpfte wie eine Löwin um einen Termin Mitte März 2020 und hatte Glück, wurde gerade noch in den OP-Plan reingeschoben. Ein kleiner Sieg über Timing und Setting.

Die Chirurgin meiner Wahl: sehr sympathisch, einfühlsam. Hatte Verständnis für meine irrationalen Ängste aus der katastrophal verlaufenen ersten Brustkrebs-OP. Die coronabedingten Einschränkungen nahm ich hin. Auf mein Survival Equipment konnte ich mich verlassen: Literatur, Musik und die auf medizinischem Cannabis basierenden Einschlafhelfer.

Aus dem Krankenhaus fuhr ich mich im Auto selbst nach Hause, mit Abstecher zum Wannsee. Ein sonniger Tag. Kleiner Spaziergang. Dann begann das Warten auf die radiologische Weiterbehandlung. Wir konnten damals noch nicht wissen, dass aus den geplanten sechs Wochen Berlin coronabedingt sechs Monate werden würden, dass ich meine betagte Mutter nicht mehr sehen würde – sie starb im Sommer 2020 im Krankenhaus, allein, ohne familiären Beistand – und dass ich in dieser ganzen Zeit quasi als Gefangene in meiner Großstadtwohnung leben würde.

Krankheit zur Zeit der Pandemie

Kein Besuch, kein Trost durch direkten Kontakt, Umarmungen, freundliche Zuwendung. Die Gesichter des medizinischen Personals sah ich über Monate nur mit Maske, kaum Mimik, Empathie sichtbar. Langsam schlich sich Verzweiflung ein über die ungewohnte Isolation. Mein Gedankenkarussell war Tag und Nacht aktiv. In den wachen Nächten half mir die Musik aus meinem Smartphone.

Endlich geht es weiter. Beginn der Strahlentherapie. Auch hier überall Restriktionen. Keine Begleitpersonen. Der Zugang zu Fuß mitten durch eine Baustelle. Dann hinab ins Souterrain. Hinein durchs Höllentor. Im Wartebereich vor sich hin oder ins Handy starrende Patienten. Einer murmelt halblaut in fremder Sprache Gebete. Ding-Dong. Nüchterne Lautsprecherdurchsagen im Behördenstil. Deprimierend.

Mitten im Wartebereich der Anmeldetresen, ohne jegliche akustische Abgrenzung. Jedes Aufnahmegespräch mit verunsicherten Patienten wird unfreiwillig mitgehört. Unwürdig! Gibt’s hier denn niemanden, der oder die sich Gedanken über einen angemessenen Empfang für Patienten in Ausnahmesituationen macht!? Mir kommen spontane Ideen zur Start-up-Gründung „Patientenfreundliche Praxisgestaltung für Onkologie, Coachings live und online“.

Maschine und Mensch

Dann der erste Kontakt mit der Maschine, mit dem maskierten Personal. Rauf auf den schmalen, kalten Metalltisch. Strenge Ansagen: Auf keinen Fall bewegen. Arme über den Kopf. So bleiben. Was mit Arthrosen in beiden Schultergelenken fast unmöglich ist und nur mit großen Schmerzen zu ertragen.

Ich zähle, murmle Mantren, mache Atemübungen und warte auf die erlösende Lautsprecheransage: Gleich haben Sie’s geschafft.

Dann bin ich mit der Maschine, ihren heftigen metallisch-lauten Geräuschen allein. Sie bewegt sich sehr, sehr nah um mich herum. Kann sie mir im Ernstfall zu nahe kommen, mich erdrücken? Kontrolliert das jemand? Ich könnte mich nicht selbst aus der Fixierung befreien. Ja, ich hatte Angst, von der Apparatur erdrückt zu werden.

In meiner Not kam ich irgendwann auf die Idee, mich mit der Maschine, der Apparatur anzufreunden, um die Tage und Wochen besser zu überstehen. Ich schaute nach ihrem Namen. Oncor. Aha. Oncor arbeitet sehr viel, beschießt täglich viele Stunden computergesteuert die Krebszellen von unterschiedlichsten Organen und Körperteilen unzähliger Patienten. Ein Arbeitstier. Durch die imaginäre Verbindung mit der Maschine wurden meine Ängste tatsächlich gemildert. Es entstanden Gedichte. Hier eine Auswahl.

ONCOR I

Zisch. Knirsch. Rumpel. Knarz.
SSSSRRRR. Schepper …
Allein im Raum. Mit ihr.
Der Maschine.

Auftritt Mensch. Vermummt.
Befehl: „Nicht bewegen. So bleiben.“
Abgang Mensch. Vermummt.

Zisch. Knirsch. Rumpel. Knarz.
SSSSRRRR. Schepper …
Allein im Raum. Mit ihr.
Der Maschine.

Zeit. Vergeht.
Hilft beten?
Ich singe Mantren. Mental.

Auftritt Mensch. Vermummt.
Fertig.
Sie können sich wieder bewegen.

Langsam. Ganz langsam.
Lösen sich Hals und Schultern.
Aus ihrer Erstarrung.

Draußen! Frei!
Im Auto.
Kaffee und Trost-Brote.

ONCOR II

Meine Meetings mit ONCOR,
der unsichtbaren Heilerin,
finden heimlich statt.
Wir sind ganz unter uns.

Draußen, im Wartebereich
die anderen Geliebten,
vermummt, wortlos,
wartend auf Heilung.

Die Smartphones rauschen,
Ablenkung –
vor der großen Begegnung
mit ihr.

Frau BAUM, bitte!
Oh sorry, ich muss,
ONCOR ruft mich, hinein
in ihre kalte Hölle.

Zum Abschluss der Behandlung

Am Ende kam ich nicht ganz so glimpflich aus der Sache raus, durch eine besonders skurrile Begegnung mit einer Radiologin. Am letzten Tag, in äußerst labilem und erschöpftem Zustand, wurde die Tür meiner Umkleidekabine aufgerissen. Eine kleine Frau im weißen Ärztinnenkittel, vermummt, griff ohne jede Ansprache nach meiner Brust: „Aha, das wird in ein, zwei Tagen aufplatzen. Wir sehen uns gleich zum Abschlussgespräch.“ Und Abgang.

Wie betäubt zog ich mich an und folgte den Piktogrammen in den langen Kellerflur, fand das Arztzimmer. Ein asiatischer Name an der Tür. Immer noch sprachlos nach der für mein Empfinden übergriffigen Behandlung fehlte mir die Energie, mein Befremden auszudrücken. Das sogenannte Abschlussgespräch stockte und wurde schließlich abgebrochen.

Fortsetzung bei einem Kollegen, den ich bereits vom Aufnahmegespräch her kannte. Ich fand meine Sprache wieder und schilderte, was vorgefallen war. Der Arzt hörte mir zu, und ich erfuhr, was bei aufgeplatzten Hautpartien im Notfall zu tun sei. So endete meine Behandlung zwei Tage später in der Abteilung für Verbrennungsschäden in der Charité.

Krankheit und Hilflosigkeit bewältigen

Was hat mir insgesamt bei der Krankheitsbewältigung eholfen? Zuallererst die stabile Beziehung mit meiner Partnerin, für die ich mehr als dankbar bin. Bei Brustkrebs I 2006 halfen mir die kreativen  Ausdrucksmöglichkeiten im Anthroposophischen Krankenhaus Berlin-Havelhöhe (Ergotherapie, Malen, Tonarbeit, Musik). Jahre später zeigte ich meine dort entstandenen besten Krebsbilder in einer großen Ausstellung in Catalunya, Spanien: La Mort La Transformació El Canvi/Tod. Transformation. Wandel. Dann meine spirituelle Anbindung an das buddhistische Projekt Tara Rokpa, das Meditation mit kunsttherapeutischer Biografiearbeit verbindet. Und die Literatur. Im Krankenhaus nach Brustkrebs I empfahl mir eine Physiotherapeutin das Buch von Tiziano Terzani „Noch eine Runde auf dem Karussell“.
Terzani, ein italienischer Autor und Journalist, mäandert nach seiner Krebsdiagnose auf intelligente und empathische Weise mit sich selbst durch Raum und Zeit. Und nimmt einen mit auf seine innere und äußere Krebsreise.

Als ich vom Krankenhaus nach Hause kam, hing an der Wohnungstür eine Plastiktüte mit Texten und Broschüren der Gesellschaft für Biologische Krebsabwehr. So begannen mein Kontakt und die spätere Mitgliedschaft mit dem so überaus wichtigen Verein.

 

Renate Baum
Supervisorin, Psychodrama-Therapeutin, Systemaufstellerin a. D.
Time-out-Coaching in Spanien

Weitere Informationen

  • Schlingensief C. So schön wie hier kann‘s im Himmel gar nicht sein. Tagebuch einer Krebserkrankung. btb (2010)
  • Stefan V. Ein Riss im Stoff des Lebens. Memoir. Nagel & Kimche (2021)
  • Terzani T. Noch eine Runde auf dem Karussell. Vom Leben und Sterben. Droemer (2014)
  • Terzani T. Das Ende ist mein Anfang. Penguin (2017)
  • Terzani T. Spiel mit dem Schicksal. Tagebücher eines außergewöhnlichen Lebens. Penguin (2017)
  • Lemole GM, Mehta PK, McKee D. After Cancer Care (Deutsche Übersetzung). Andreas Steiner (2016)
Information zu unseren Betroffenenberichten

Wir freuen uns, wenn Patient:innen ihren individuellen und persönlichen Genesungsweg finden. Das ist ein Ausdruck des großen Heilungspotenzials in jedem Menschen. Gerne teilen wir diese Erfahrungen mit unseren Leser:innen, auch wenn persönliche Entscheidungen nicht immer auf andere Betroffene übertragbar sind. Sie entsprechen auch nicht in jeder Hinsicht einer konkreten Empfehlung der GfBK für Patient:innen in ähnlicher Situation. Wägen Sie sorgfältig ab, welche Impulse aus den Patient:innenberichten für Sie in Ihrer aktuellen Lage passend sind. Besprechen Sie diagnostische oder therapeutische Maßnahmen im Zweifel gerne mit unserem ärztlichen Beratungsdienst.

©iStock, 1210358928, nortonrsx
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