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© Ruth Pillat

Mein Krebs - mein Lehrmeister

Ruth Pillat in Impulse 3/2008

Dienstag, 25. März 1986, die Woche vor Ostern. Schon lange fühle ich mich schlecht, quäle mich schon mit dem dritten Infekt in diesem Jahr. Warum nur habe ich mich im letzten Sommerurlaub nicht erholt? Wir hatten ihn auf sechs Wochen ausgedehnt, doch ich fühle mich genauso zerschlagen wie zuvor. Was ist los? Gut, seit über fünf Jahren habe ich Dauerstress. Als Ärztin bin ich die rechte Hand meines Mannes in seiner Kinderarzt-Praxis. Wenn ich dort nicht bin, bereite ich die Proben und Auftritte mit unseren historischen Instrumenten vor.

Renaissance- und Barockmusik sind neben der Medizin unser Lebensinhalt. Mehrere Todesfälle hatten mich stark belastet: meine Schwiegermutter, eine enge Freundin und meine Mutter. Wir waren dabei, mein Elternhaus zu renovieren und wollten selbst dort einziehen – da blieb keine freie Minute. Und jetzt auch noch Herzbeschwerden! Ich bin doch erst 56! Ich beschließe, ich gehe zum Arzt. Ein Röntgenbild der Lunge gibt den Befund preis: Metastasen in der Lunge, ein Schock! Wo sitzt der Primärtumor? Am nächsten Morgen taste ich meinen Körper ab, die Brust – nichts, den unteren Bauch – nichts, den Oberbauch – links oben, faustgroß – da ist etwas. Die Niere. Ich weiß sofort, Nierenkrebs, das sieht nicht gut aus.

Die weitere Untersuchung ergibt sieben weitere Metastasen in der Leber. Als ich vom Arzt zurück komme, habe ich eine gute und eine schlechte Nachricht. Die schlechte sind die Metastasen in der Leber, die gute ein Termin in der anthroposophischen Filderklinik in Stuttgart.

Der Chefarzt empfängt mich in einem angenehmen Raum. Er empfiehlt eine Operation, um die Tumormasse zu verringern. Das ist gegen die Regel. Wenn man einen Nierentumor in so einem Stadium operiert, kann es sein, dass die Metastasen in ihrem Wachstum regelrecht explodieren. Eine Zitterpartie. Eine Computertomographie soll vor der Operation Auskunft über die Umgebung des Tumors geben. Außerdem bekomme ich ein Programm mit, das mich ab sofort begleitenwird: 1. Vegetarisch essen. 2. Rhythmus in mein Leben bringen, d. h. eine gut geordnete Tages- und Wochenstruktur. Ein äußerer Rhythmus stärkt die inneren rhythmischen Prozesse im Organismus. 3. Jede Form von Stress, Anspannung und Aufregung vermeiden. 4. Nur noch machen, was mir gut tut. „Sie kümmern sich um Ihr Befinden, ich kümmere mich um die Befunde“, sagt der Arzt.

Mein Alltag ändert sich grundlegend. Ich bin schachmatt. Spritzen, Infusionen, Wickel, liegen, spazieren gehen, leichte gymnastische Übungen im Bett. Das Buch und die Kassetten von Carl Simonton helfen mir sehr in dieser schweren Zeit. Nach einiger Zeit brauche ich die Anleitung nicht mehr. Ich lerne zu beobachten, was in mir geschieht und lerne, es zu akzeptieren.

Zwei Gespräche mit einem psychoonkologisch tätigen Arzt machen Verdrängtes bewusst. Ich verstecke mich nicht, rufe Bekannte an, sage, dass ich Krebs habe. Die Reaktionen sind sehr unterschiedlich.

Jeden Montag bekomme ich Mistelinfusionen, zusätzlich zu den Spritzen. Das gibt Kraft. Alle vier Wochen muss ich zur Nachuntersuchung. Nach einem halben Jahr folgen wieder Röntgenbilder. Die Ergebnisse sind erstaunlich. Das Wachstum steht, die Krankheit scheint zum Stillstandgekommen.

Im November 1987 entscheide ich mich nach anfänglichem Zögern für eine Kur in einer anthroposophischen Kureinrichtung und bin angenehm überrascht. Ich bekomme Kontakt zu Mitbetroffenen, die damit schon 4, 7, 12 Jahre leben. Werde ich es auch so weit bringen?

1990 bricht eine Metastase in der Lunge auf und die Blutung ist kaum zu stoppen. Ich muss mich zu einer weiteren Operation entschließen, auch wenn es schwer fällt. Ein Drittel des rechten Lungenflügels wird entfernt. Ich bekomme Opiate gegen die Schmerzen. Mit Mühe und Willenskraft schaffe ich es, von den Schmerzmitteln weg zu kommen. Mein Mann wurde mir in all dieser Zeit eine unschätzbare Hilfe. Er war und ist mit-leidend. Ein neuer Abschnitt unserer Ehe, unseres kompletten Lebens begann. Die Kinder waren aus dem Haus und viele Freunde und Familienmitglieder standen uns vor allem seelisch zur Seite.

1998 wurde ich erneut an der Lunge operiert, 1997 wegen einer Metastase im Gehirn, die Lähmungen verursachte. Inzwischen habe ich Einschränkungen der Atemkapazität und eine leichte Schwäche in Arm und Bein. Bei all dem empfinde ich meine Lebensqualität als gut. Mit allem Tun höre ich auf, bevor es zu viel ist. Ich merke es daran, dass ich spüre „Ich habe keine Lust mehr″.

Ich habe ein neues Lebensgefühl dafür, dass es mich gibt. Die bisherigen Erlebnisse mit dem Krebs und allen Einschränkungen, Ängsten, Hoffnungen, Schmerzen, Verzichten und Freuden gehören nun zu mir, zu meinem Leben. Ich habe mich mit dem Krebs und mit allen inneren Problemen und mit dem Sterben auseinander gesetzt, habe alles angenommen wie es ist. Das hat mich zum „Lebenkönnen″ befreit. Täglich bin ich dessen dankbar bewusst.

Ruth Pillat

Weitere Informationen

  • Ruth Pillat „Mein Krebs – mein Lehrmeister. Ein Erlebnis- und Erfahrungsbericht″, ISBN 3-8334-3744-8
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©iStock, 1210358928, nortonrsx
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