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© Britta Wessel

Krebs - vereiteltes kreatives Feuer

Britta Wessel in Impulse 3/2005

Ich komme aus einem sehr autoritären, intellektuellen und leistungsbezogenen Elternhaus, in dem Gefühle wenig zählten. Als pflichtbewusste Tochter meiner Eltern studierte ich Sprachen und Jura, heiratete und baute zusammen mit meinem heutigen Ex-Ehemann eine Anwaltspraxis auf. Als Abiturientin hatte ich mir allerdings gewünscht, Theaterwissenschaften zu studieren. Die Theater- und Tanzaufführungen unserer Laienschauspielgruppe während der Schulzeit begeisterten mich. Diese Begeisterung nahm ich damals noch nicht ernst. Mein Leben bestand aus Studium, später aus dem Aufbau der Praxis und meiner Familie.

Dem Theater und meiner Begeisterung dafür maß ich damals noch keine besondere Bedeutung bei. Mein Leben bestand aus „Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung″, ein Begriff aus dem Kommunalrecht: Familie, Mandanten, Haushalt waren die Weisungsgeber, jede Stunde des Tages war für bestimmte Aufgaben festgelegt. Ich erledigte die Aufgaben, das war meine Erfüllung, doch mit zunehmendem Alter erschöpfte ich immer mehr, da mich dies alles emotional nicht erfüllte. 1993, im Alter von 45 Jahren erkrankte ich an Brustkrebs; zwei Lymphknoten waren befallen. Auf mich warteten Chemotherapie und Bestrahlung.

Die Chancen, gesund zu bleiben oder wieder zu erkranken, standen nach Aussagen des behandelnden Arztes 50 zu 50. Für mich war sofort klar, dass die Erkrankung ein Hilferuf meiner Seele war, die ich viel zu lange „vergewaltigt″ hatte. Und mein Entschluss stand fest, jetzt all das zu wagen und auszuprobieren, wozu ich bisher keine Zeit und auch keinen Mut gehabt hatte. Nur war mir noch völlig unklar, was es noch zu wagen galt. Klar war mir jedoch, dass ich meinen Beruf als Anwältin in dieser Krisenzeit nicht mehr ausüben wollte. Damals begann für mich eine lange Reise, bei der ich meine Begeisterung für mein Leben wieder entdeckte. Unterschiedliche Therapien halfen mir dabei: anthroposophisches Malen, Heileurythmie, Yoga, das Simonton-Gesundheitstraining. Dabei traf ich auf all die Bücher von Simonton, LeShan, Canakakis und Siegel, in denen ich in den Porträts der anderen Krebspatienten immer wieder mir selbst begegnete. In einem Buch von LeShan las ich den Satz, der diesem Bericht die Überschrift gegeben hat. „Krebs – vereiteltes Feuer″. Dieser Satz erschütterte mich damals sehr und ließ mich meine Sehnsucht nach einem anderen Lebensausdruck wahrnehmen. Verfügte ich etwa über kein „Feuer″, über keine Gefühle, über kein Temperament, die nach Ausdruck verlangten? Was sollte meine Seele hervorbringen, um dem Körper die Last der hohen „Krebskreativität″ abzunehmen? Denn für mich stand fest, dass Krebs eine äußerst „kreative, produktive″ Krankheit war. 2 1/2 Jahre nach der Erkrankung hatte ich bei meinem ersten Simonton-Training bei der Reise zu meinem „Ort der Kraft und Freude″ das wegweisende innere Bild: Ich tanzte mit Gymnastikbändern am Meeresstrand. Das bedeutete für mich: Ich musste wieder tanzen. Bei meinem ersten Seminar waren die Leiterinnen Tanzsoziotherapeutinnen. Sie waren für mich Wegbereiter für den nächsten Schritt. Ich begann eine dreijährige Ausbildung zur Tanzsoziotherapeutin. Parallel dazu lernte ich in psychoonkologischen und psychologischen Weiterbildungen die Simontonmethode, um als Simontontrainerin zu arbeiten. Mit 50 Jahren startete ich in meinem neuen Beruf als Tanzsoziotherapeutin, mit 51 Jahren in einem liturgischen Gottesdienst an Pfingsten wagte ich den Sprung zur Solotänzerin, mit 52 Jahren wurde ich Dozentin der Mildred Scheel Akademie und mit 54 Jahren wurde ich „mus-e″-Künstlerin der Yehudi Menuhin Stiftung für Tanz in Grundschulen in benachteiligten Stadtgebieten. Jetzt endlich lebe ich „mein kreatives Feuer″: Bei der Arbeit mit den Grundschülern, bei der therapeutischen Arbeit mit meinen Klienten/innen, insbesondere den Krebspatienten/innen, aber am stärksten in meinen Solotänzen in Gottesdiensten, bei Kunstausstellungen und Lesungen, bei denen ich meinen Gefühlsreichtum und meine Gefühlstiefe zu den großen polaren Lebensthemen wie „Trauer – Freude, Resignation – Wagnis, Geburt – Tod, Liebe – Hass, Erstarrung – Lebensfluss, Qual – Ekstase, Himmel – Hölle, Strafe – Vergebung“ zum Ausdruck bringen kann. Meinen Lebensreichtum und meine Lebensbegeisterung habe ich heute gefunden. Das hat mein Leben immer wieder erneuert, aber auch viele schmerzvolle Abschiede mit sich gebracht. Ohne meine Krebserkrankung hätte ich niemals den Mut gehabt, diese Veränderungen zu wagen. Die Erfahrungen meines Lebens nach meiner Krebserkrankung habe ich zu meinem Tanz „Neuer Mensch – neu geboren – neue Wege gehen“ nach Musik von Albinoni verdichtet, den ich letztes Jahr in einem Reformationsgottesdienst tanzen durfte. Mein heutiges Leben erscheint mir immer wieder wie ein Wunder und ein großes Geschenk, für das ich mich mit jedem neuen Solotanz bedanke.
 
Britta Wessel
Tanz-Therapeutin, Psycho-Onkologische Beraterin,
Mühlheim a.d. Ruhr.

Es ist besser,
für etwas
zu kämpfen,
als
gegen etwas.
(Amos Bronson Alcott)

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©iStock, 1210358928, nortonrsx
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