Immunonkologie: Wundermittel oder teure Innovationen?
Innovative Krebsmedikamente - Eine kritische Diskussion
In unserer ärztlichen Beratung werden wir häufig nach zielgerichteten medikamentösen Therapien gefragt. Gleich zu Beginn meiner kritischen Gedanken möchte ich klarstellen, dass mir nichts an einer grundsätzlichen Verurteilung von Innovation liegt. Wenn neue Ideen und Erfindungen dem Menschen dienen, ist das sehr begrüßenswert. Mir geht es vor allem darum, Innnovation – auf welchen Gebieten auch immer – hinsichtlich ihres Nutzens für den Einzelnen zu betrachten und nicht im Lichte der Gewinnmaximierung für ein Unternehmen.
Technische Innovationen haben in der Diagnostik, den operativen Fachgebieten der Onkologie und der Strahlentherapie zwar nicht den Durchbruch für die Krebsbehandlung gebracht, jedoch deutliche Fortschritte für die Therapie manch einer Tumorerkrankung und vor allem für die Lebensqualität der Betroffenen. Bei vielen konventionellen Arzneimitteln bin ich äußerst skeptisch – bis auf wenige Ausnahmen, z.B. bei Krebserkrankungen des blutbildenden Systems und einigen wenigen seltenen Krankheitsbildern.
Neue Wunderwaffen? Ich habe das Gefühl, dass ähnlich wie in der Politik auch in der Medizin ständig neue Wunderwaffen propagiert werden, deren massive Kollateralschäden überhaupt nicht wahrgenommen werden. In Kriegsgebieten zünden Soldaten immer weitere und neue „wirksamere“ Bomben. Dabei werden unzählige Zivilisten verletzt oder getötet und auch zivile Einrichtungen getroffen, wie Schulen, Krankenhäuser oder Kinderheime. Analogien erkenne ich in dem Krebsgebiet, das im Organismus des Menschen liegt. Bei der Mehrzahl der üblichen Chemotherapien richtet sich die Aufmerksamkeit ausschließlich auf das Töten der Krebszellen. Auch die Euphorie um neue „Wunderwaffen“ aus den Genlaboren der pharmazeutischen Industrie blendet die möglichen Schäden weitgehend aus. Sie werden im Markt als vollkommen zielgerichtet und individuell angeboten.
Bewertung neuer Medikamente. Im Oktober vergangenen Jahres (2017) publizierte Prof. Vinay Prasad von der Oregon Health & Science University eine Studie im renommierten englischen British Journal of Medicine (BMJ 10/2017.) Untersucht wurden neue molekulargenetisch hergestellte Wirkstoffe. Das sind sehr teure Substanzen. Sie zählen vornehmlich zu der Kategorie der molekularen Antikörper, Angiogenesehemmer oder Checkpointinhibitoren. Unter strengen wissenschaftlichen Kriterien bewerteten die Forscher 48 Krebsmedikamente, die von 2010 bis 2013 für 68 Indikationen zugelassen worden sind. So kamen diese neuen Medikamente hinsichtlich 44 Indikationen, das heißt bei 57%, lediglich auf Basis von sogenannten Surrogatmarkern (zweitrangige Maßstäbe zur Bewertung von Studien) auf den Markt.
Verbesserung der Lebensqualität? Den Beweis dafür, dass sie die Überlebensrate verlängern oder die Lebensqualität der Patienten verbessern können, blieben diese Medikamente schuldig. Lediglich bei sieben Medikamenten, also weniger als 10% der Indikationen, gab es Hinweise auf eine Verbesserung der Lebensqualität. Bei den 24 Indikationen mit Überlebensvorteil betrug der Lebenszeitgewinn zwischen 1 und 5,8 Monaten (Medianwert: 2,7 Monate!). Professor Prasad kommentierte seine Ergebnisse mit den Worten: „Die hohen Kosten und auch die Toxizität von Krebsmedikamenten zeigen doch schon, dass wir die Verpflichtung haben, Patienten nur dann einer solchen Therapie auszusetzen, wenn sie eine tatsächliche Verbesserung ihres Zustandes erwarten können. Von einem solchen Kriterium aber sind wir derzeit noch sehr weit entfernt.“ Emma Robertson, die Vorsitzende einer der größten britischen Patientenvereinigungen schrieb: „Für mich und Tausende andere Patienten ist klar, dass unser gegenwärtiges Forschungs- und Arzneimittelentwicklungsmodell gescheitert ist.“
Zu einem ähnlichen bedrückenden Ergebnis kam eine Untersuchung von Dr. Sebastian Salas-Vega von der London School of Economics and Science. Er betrachtete Krebsmedikamente, die zwischen 2003 und 2015 in Großbritannien, Frankreich und Australien neu zugelassen worden sind. 53 neue Wirkstoffe waren Gegenstand dieser Bewertung. Durch neue Medikamente wurde das Leben von Krebspatienten im Durchschnitt um 3,4 Monate verlängert. Eine verbesserte Sicherheit im Vergleich zur bisherigen Therapie konnte nur für acht (15%) der 53 Präparate attestiert werden. Es gab zwar einige wenige Tumorkrankheitsbilder, die auf die Therapie etwas besser ansprachen (Brustkrebs mit 8,5 Monaten und Nierenkrebs mit 6,3 Monaten Überlebensvorteil), bei der Mehrzahl der Tumorerkrankungen lagen die Werte unter drei Monaten oder die Medikamente zeigten überhaupt keine Wirkung.
Prüfmaßstäbe. Ganz sicher gibt es bei allen Formen der Krebserkrankung einzelne Patienten, die nicht dem statistischen Mittelwert entsprechen und deutlich länger leben als ihre medizinische Prognose voraussagt. Nur – wenn die Wissenschaft schon so strenge Bewertungskriterien definiert, warum halten sich die Wissenschaftler oft selbst nicht an ihre Prüfmaßstäbe? Es mag auch Menschen geben, die von dem einen oder anderen neuen Krebsmedikament profitieren und bei denen die erwünschte Wirkung erzielt wird. Diese Menschen dürfen darüber glücklich sein. Ob ihr Glaube an das Medikament die Genesung unterstützt hat oder das Mittel selbst, kann niemand wirklich wissen, und es ist für diese Menschen letztlich zweitrangig. Sie freuen sich, wenn es ihnen besser geht, und das ist gut so. Viele Patienten, die von dem einen oder anderen Medikament profitieren, werden parallel komplementärmedizinisch behandelt. Dieser Aspekt fließt in die wenigsten Studien ein. Einerseits erzählen die Betroffenen ihrem Onkologen häufig nichts darüber, weil sie Angst vor Zurückweisung haben. Andererseits wird die Mehrzahl der komplementärmedizinischen Methoden von den Medizinern von vornherein als wirkungslos einstuft und daher in der Studienauswertung nicht berücksichtigt.
Belastende Nebenwirkungen. Entscheidend für mich ist, dass zahlreiche Menschen kürzlich erst zugelassene Medikamente erhalten und ihre Nebenwirkungen zum Teil als gravierend empfinden. Dass diese Nebenwirkungen nicht immer so ausgeprägt sind wie bei den meisten Chemotherapeutika scheint die Betroffenen schon zufriedenzustellen. Bei chronisch belastenden Nebenwirkungen rate ich allerdings, das Fortführen der Therapie gewissenhaft abzuwägen. Selbst wenn ein Mittel wirkt und den Tumor beeinflusst, heißt das leider nicht automatisch, dass es dem Patienten auch praktisch nützt. Kann ein Medikament, das die Lebensqualität tagtäglich über lange Zeit einschränkt, tatsächlich zu einer Verbesserung der Gesamtsituation führen? Diese Frage kann ich natürlich nicht für alle beantworten. Eine solche Entscheidung liegt letztlich bei den Betroffenen selbst. Die einzelne mündige Patientin und der einzelne mündige Patient sollten sich frei entscheiden können, ohne jeglichen Druck von ärztlicher Seite.
Entdeckung der Fiebertherapie. Die Immunonkologie ist heute zweifellos der wichtigste Forschungsbereich der modernen Krebsmedizin. Der Chirurg William Coley, auf den sich die Väter der modernen Checkpointinhibitoren berufen, hat schon 1890 bewiesen, dass unser köpereigenes Regulations- und Abwehrsystem Krebszellen zerstören kann. Nach der Operation eines Krebskranken, bei dem der Tumor nur teilweise chirurgisch entfernt werden konnte, entzündete sich die Operationswunde. Der Patient bekam hohes Fieber, und zur allseitigen Überraschung verkleinerte sich die Geschwulst. Mit jedem weiteren Fieberschub beobachtete Coley, dass der Tumor kleiner wurde und schließlich ganz verschwand. Er entwickelte damals die zwischenzeitlich völlig ins Abseits geratene Fiebertherapie mit abgetöteten Bakterien. In den folgenden Jahren behandelte Coley über 1000 Menschen mit inoperablen Tumoren. Bei jedem zehnten Patienten wurde die Krankheit deutlich zurückgedrängt. An der Fiebertherapie hat die Medizin seit der Entwicklung der ersten Chemotherapeutika kein Interesse mehr. Der Gründer des Deutschen Krebsforschungszentruns K. H. Bauer sagte sogar noch in der 1960er-Jahren: „Wer von einem körpereigenen Abwehrsystem spricht, ist ein Scharlatan.“ Heute ist hoffentlich jedem Arzt bewusst, dass das Immunsystem von Krebspatienten aktiviert werden muss. In der konventionellen Medizin wird das leider nur mit gentechnisch erzeugten Medikamenten versucht, die an der Oberfläche einzelner Tumorzellen wirken.
Forschung ohne Scheuklappen? Das Deutsche Institut für medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) stellte in einer Veröffentlichung im Deutschen Ärzteblatt vom 9. März 2018 fest: Fast 90% der klinischen Phase-III-Studien werden von kommerziellen Sponsoren finanziert. 2017 wurden lediglich 33 von 256 Studien in Deutschland aus unabhängigen Quellen bezahlt. In Phase-III-Studien beobachten die Forscher die Wirkungen von Medikamenten vor ihrer Zulassung an möglichst vielen Probanden. Gibt es da überhaupt noch eine Chance, dass in der Medizin ohne Scheuklappen geforscht wird und endlich auch komplementäre Verfahren systematisch einbezogen werden? Das halte ich für äußerst fraglich, denn die universitäre Medizin hält die Mittel und Methoden der Komplementäronkologie in ihrer Mehrzahl pauschal für wirkungslos. Unzählige Krebskranke gehen zu einem Arzt für Naturheilverfahren oder Homöopathie oder zu einem Heilpraktiker.
Beispiel Methadon. Vergangenes Jahr hat sich die Gesellschaft für Biologische Krebsabwehr intensiv mit dem Thema Methadon auseinandergesetzt. Das Medikament ist seit über 70 Jahren zugelassen, die pharmakologisch und toxikologisch wichtige Grundlagenforschung ist lange abgeschlossen. Die gesicherten Forschungsergebnisse von Dr. Claudia Friesen sind in vielerlei Hinsicht weitreichender als die Erkenntnisse, die zu manch einem Antikörper vorliegen – nur hat das Methadon leider keine Lobby. Natürlich muss die Anwendung im onkologischen Kontext in Studien differenziert geprüft werden. Methadon ist sicher kein Medikament, das im Gießkannenprinzip über alle Krebskranken ausgeschüttet werden darf.
Erlauben Sie mir nun einige kritische Fragen. Warum fördert die Deutsche Krebshilfe nicht umgehend umfassende Studien mit Methadon? Warum kümmern sich onkologische Studien nicht systematisch um die Erforschung der Nebenwirkungen von Kortison? Kortison fehlt bei kaum einer Chemotherapie. Aus der Grundlagenforschung ist bekannt, dass Tumorstammzellen durch Kortison geschützt oder sogar aktiviert werden. So sind Resistenzen schon vorprogrammiert. Auch ein Beispiel aus der Naturheilkunde will ich hier stellvertretend für viele andere Substanzen nennen: Warum laufen nicht schon in zahlreichen Universitätskliniken Studien mit Artemisin und seinen Derivaten, obwohl die vorläufigen präklinische Untersuchungen vielversprechend sind und es vorläufige eindeutig positive klinische Befunde gibt?
Das Heilungspotenzial des Menschen
Lassen Sie mich trotz allen kritischen Gedanken mit einem positiven Ausblick schließen. Für mich gibt es nur eine „Wunderwaffe“ für die Gesundheit. Das ist der einzelne Mensch und das ihm innewohnende unendliche Heilungspotenzial. Die Medizin kann dieses Heilungspotenzial variantenreich unterstützen. Das Entscheidende geschieht immer im Menschen selbst. Eigeninitiative, Mut, Hoffnung, Selbstfürsorge, persönliche Zuwendung und Vertrauen sind wesentliche Heilfaktoren, die von placebokontrollierten Studien nicht gemessen werden können. Dennoch tragen sie wirksam zur Genesung bei.
Literaturquellen
Davis C, Aggarwal A et al.: Availability of evidence of benefits on overall survival and quality of life of cancer drugs approved by European Medicines Agency: Retrospective cohort study of drug approvals 2009–2013. BMJ 2017 (Verfügbarkeit der Beweise zu den Vorteilen auf die Gesamtüberlebensrate und Lebensqualität infolge von Krebsmedikamenten, die von der EMA zugelassen wurden: Eine retrospektive Kohortenstudie von Arzneimittelzulassungen von 2009 bis 2013)
Osterloh, Falk: Klinische Studien Ruf nach mehr Unabhängigkeit. Deutsches Ärzteblatt Jg.115, Heft 10, 9. März 2018
Ärztezeitung 17. Januar 2017: Was neue Onkologika tatsächlich bringen?
Autor
Dr. med. György Irmey, Ärztlicher Direktor der Gesellschaft für Biologische Krebsabwehr e.V.
Dieser Artikel erschien in momentum - gesund leben bei Krebs, Ausgabe 2/2018