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Dr. med. Nawid Peseschkian, Leben in Balance - Impulse aus der Positiven Psychotherapie

27. September 2016

Leben in Balance - Die eigenen Fähigkeiten und Selbsthilfepotentiale aktivieren. Die positive Psychotherapie hat das Ziel das Leben wieder in Balance zu bringen. Das tun Menschen, wenn sie die Körper, Leistung, Kontakt und Fantasie in einen Ausgleich bringen.

Der Alltag beschert uns stetig zahlreiche Herausforderungen: Arbeitsdruck, Verantwortung, Engagement bei der Arbeit auf der einen Seite, Familie, Freizeit, Erholung und sonstige soziale Kontakte auf der anderen Seite. Durch die Diagnose Krebs wird die Belastung natürlich nicht kleiner. Innere und äußere Konflikte treten in der Krise oft noch deutlicher ans Tageslicht als zuvor. Doch wie soll man sie bewältigen? Dieser Artikel will Ihnen die Grundzüge der Positiven Psychotherapie nach Nossrat Peseschkian vermitteln. Seine Impulse können Ihnen eine Anregung zur Selbsthilfe für einen gesünderen Umgang mit Konflikten sein und auch als Impuls für eine professionelle Begleitung dienen.

In der Positiven Psychotherapie wird das Wort „positiv” anders verwendet als in unserer Umgangssprache. Es stammt aus dem Lateinischen. „Positum” bedeutet übersetzt: „das Tatsächliche, das Vorhandene”. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Eine Flasche ist gleichzeitig halb voll und auch halb leer. Tatsächlich und vorhanden sind nicht nur negative Aspekte, sondern auch positive. Was davon wir betrachten, ist immer eine Frage der Sichtweise und des inneren Standpunkts.

Das Prinzip Hoffnung

In der Positiven Psychotherapie richten wir unsere Aufmerksamkeit nicht primär darauf, eine Störung zu beseitigen, sondern es wird versucht, die vorliegenden Fähigkeiten und Selbsthilfepotenziale zu erkennen und zu aktivieren. Das betrifft die Einstellung zu den Dingen und zum Leben im Allgemeinen.

Das Prinzip Balance

Jeder Mensch ist einzigartig. Und Menschen reagieren aus ihrer Individualität heraus unterschiedlich auf Umwelteinflüsse. Diese Einzigartigkeit der Reaktionen wird durch die körperlichen, beruflichen, sozialen, kulturellen und ethisch-weltanschaulichen Erfahrungen bestimmt. Ziel für einen positiven Umgang mit Stress ist es, diese Einzigartigkeit zu erfahren und das Leben vom Zustand des Ungleichgewichts wieder in Balance zu bringen.

Trotz aller Unterschiede und der menschlichen Individualität lässt sich beobachten, dass Menschen auf Dauer gesund, zufrieden und glücklich sind, wenn sie sich in Balance befinden, in ihrer „Mitte” ruhen.

Die Balance bezieht sich auf die vier Lebensbereiche

• Körper
• Leistung
• Kontakt
• Fantasie/Zukunft

Sie ergänzen sich gegenseitig. Im Gleichgewicht sind sie dann, wenn wir jedem Bereich 25 Prozent unserer Energie und Zeit widmen. Die einseitige, chronische Über- oder Unterbetonung eines Lebensbereichs führt zwangsläufig zu Problemen in anderen Bereichen, die ebenso wichtig sind. Über einen gewissen Zeitraum können wir mit solchen Dysbalancen leben, aber nicht dauerhaft. Werden Lebensbereiche über längere Zeit einseitig betont, gerät das Leben aus der Balance.

Die vier Bereiche entsprechen einem Reiter, der motiviert (Leistung) einem Ziel zustrebt (Fantasie). Er braucht dazu ein fittes Pferd (Körper) und – für den Fall, dass es ihn einmal abwerfen sollte – Helfer, die ihn beim Aufsteigen unterstützen (Kontakt).

Das Prinzip Beratung/Konfliktlösung

Prinzipiell haben wir alle die Fähigkeit, die Möglichkeit und die Chance, durch erlerntes Problemlösungsverhalten oder durch Beratung Stress, Überlastung und Erschöpfung abzubauen. Konflikte, die im Laufe unserer Entwicklung in der Auseinandersetzung mit unserer Umwelt entstehen, sind nicht notwendiges und unausweichliches Schicksal. Sie stellen sich als Probleme und Aufgaben dar, die es positiv, ganzheitlich und flexibel zu lösen gilt.

Vier Formen der Konfliktverarbeitung

Überall, wo Menschen zusammentreffen und ein sinnvolles Leben führen wollen, entwickeln sich Missverständnisse und Konflikte. Sie können Stress verursachen. Wir alle sind von Konflikten mit uns selbst, mit unserem Partner, unseren Mitmenschen und schließlich mit unseren Lebenszielen betroffen. Seelisch gesund ist nicht derjenige, der keine Probleme hat, sondern derjenige, der mit unerwarteten Problemen und Situationen umgehen kann. In Zusammenhang mit Konflikten lassen sich vier „Lösungswege” beobachten, die man den vier Bereichen zuordnen kann:

• Flucht in den Körper
• Flucht in die Arbeit
• Flucht in die Geselligkeit/Einsamkeit
• Flucht in die Fantasie

Das „Vierergespann” der Lebensbereiche ähnelt einer Waage, die ein ausgewogenes Verhältnis haben muss. Wenn diese „Waage” in der Lebenspraxis durch Flucht in die Krankheit (Körper), Flucht in die Arbeit (Leistung), Flucht in die Geselligkeit oder auch Einsamkeit (Kontakt), aber auch durch Flucht in Träume (Fantasie) aus dem Gleichgewicht gerät, reagiert der Mensch mit physischen oder psychischen Erkrankungen.

Diese Formen der Konfliktverarbeitung sind relativ weite Kategorien, die jeder mit seinen eigenen Vorstellungen, Wünschen und Problemen füllt.

Praxisbeispiel einer Familie in Dysbalance: Der Vater reagiert durch Flucht in die Arbeit (Leistung), die Mutter reagiert durch Rückzug und meidet Nähe (Kontakt), das Kind reagiert durch gesundheitliche Beschwerden (Körper). Diese verschiedenen Reaktionsweisen können ihrerseits zu Kommunikationsschwierigkeiten führen.

Zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Idealerweise sind alle vier Lebensbereiche ausgewogen und in Harmonie. Soweit die Theorie. Praktisch schaut das bei den meisten von uns leider ganz anders aus. Viele von uns haben eine unausgeglichene Balance. Lassen Sie uns einen Blick auf die Hauptbereiche Körper, Arbeit, Beziehung und Sinn werfen. Ich lade Sie zu einer kleinen Übung ein:

• Energie: Zeichnen Sie Ihre heutige Energieverteilung auf die vier Bereiche schematisch auf. Natürlich muss die Summe insgesamt bei 100 Prozent liegen. Versuchen Sie, ehrlich den Ist-Zustand zu dokumentieren, auch und gerade dann, wenn Sie damit nicht zufrieden sind.

• Zeit: Geben Sie Ihre heutige Zeitverteilung auf die vier Bereiche an. Wie viel Zeit investieren Sie täglich in die einzelnen Bereiche? Auch hier können Sie mit Prozentzahlen arbeiten. Die Angaben für Zeit und Energie können durchaus abweichen.

• Wunsch: Wie soll Ihr Leben aussehen? Wie viel Energie würden Sie gerne in jeden der vier Bereiche investieren, wenn Sie es frei entscheiden könnten? Wie viel Zeit möchten Sie in die einzelnen Bereiche investieren?

Im „Idealfall” sind alle drei Auswertungen identisch: Sie leben so, wie Sie es sich wünschen. In zeitintensive Bereiche fließt ein entsprechender Anteil an Energie. Häufig ist die Verteilung leider nicht ideal und es findet sich ein großer Unterschied zwischen Energieaufwand und Zeitverteilung. Dies kann als Anzeichen für ein Problem gedeutet werden, in das viel Energie, aber wenig Zeit investiert wird. Bei Beziehungsproblemen ist das beispielsweise fast immer der Fall.

Diese Technik kann Ihnen hilfreich sein, um aus der passiven Rolle des Leidenden herauszukommen. Wenn Sie sich aktiv mit Ihren Veränderungsmöglichkeiten auseinandersetzen, übernehmen Sie Verantwortung für Ihr Leben. Dann fühlen Sie sich nicht mehr hilflos und ausgeliefert. Die praktische Erfahrung zeigt, dass die meisten Menschen schon von relativ geringfügigen Änderungen profitieren.

Die fünf Stufen der positiven Stressbewältigung

Konflikte, Missverständnisse und Unerwartetes kommen in der zwischenmenschlichen Beziehung immer wieder vor. Die fünf Stufen der positiven Stressbewältigung können auf die Partnerschaft, auf die Familie und auf das Berufsleben übertragen werden. Sie werden schrittweise bearbeitet, damit letztendlich der zwischenmenschliche Konflikt gelöst, ein Standpunktwechsel herbeigeführt und bisherige Verhaltensweisen erweitert werden können. Ein Coach oder Therapeut, der in Positiver Psychotherapie ausgebildet ist, begleitet Sie auf diesem Weg:

Die Stufe der Beobachtung/Distanzierung
Auf dieser Stufe wird das Problem bzw. die Situation möglichst wertneutral geschildert, ohne Kritik zu üben. Das ist hilfreich, weil wir in der Regel die innere Distanz zu dem konfliktauslösenden Sachverhalt verloren haben. Wenn wir einen Schritt zurückgehen, erhalten wir die nötige Distanz, um Probleme, Mitmenschen und Situationen von einem anderen (erweiterten) Standpunkt aus zu betrachten.

Die Stufe der Inventarisierung
Auf dieser Stufe werden gezielte Fragen gestellt, die Sie schriftlich beantworten. Der Schwerpunkt liegt auf der Differenzierung. Das Aufschreiben der Konfliktsituation und der damit verbundenen Inhalte fördert die innere Distanz zu dem Problem.
„Den Wert von Menschen und Diamanten kann man erst erkennen, wenn sie aus der Fassung bringt” Nossrat Peseschkian

Die Stufe der situativen Ermutigung
Auf dieser Stufe geht es darum, mit konstruktiven und aufbauenden Mitteln die Beziehung zu erhalten. Wir befassen uns mit den erfreulichen Eigenschaften und Verhaltensweisen unseres Konfliktpartners und mit unseren eigenen angenehmen Qualitäten. Dadurch fällt es uns leichter, auch den negativen und unangenehmen Eigenschaften und Verhaltensweisen ins Auge zu blicken.

Die Stufe der Verbalisierung
Auf den bisherigen Stufen wurden die atmosphärischen Voraussetzungen geschaffen, starre Formen gelockert, die Fähigkeit zum Verstehen gefördert und der Blickwinkel erweitert. Nun beginnt die direkte Auseinandersetzung mit den Konfliktinhalten. Geeignetes Medium hierfür ist beispielsweise die Familien- und Partnergruppe, in der zum gegebenen Zeitpunkt in einer positiven und konstruktiven Weise Konflikte offen angesprochen und Lösungen gemeinsam erarbeitet werden.

Stufe der Zielerweiterung
Auf dieser Stufe werden neue Perspektiven erarbeitet. Wir stellen uns die essenziellen Fragen: „Was würde ich mit meiner neu gewonnenen Zeit, Energie und meinem Potenzial machen, wenn ich mit meinem Konfliktpartner das Problem zur beidseitigen Zufriedenheit gelöst habe?” „Zu welchen neuen Ufern möchte ich mich aufmachen?”

Wenn wir Konflikte in dieser Art und Weise bearbeiten und lösen, dann werden wir feststellen, dass sich neue Qualitäten in unseren Beziehungen ergeben. Wir „erleben und spüren” mehr von unserem Gegenüber – und auch mehr von uns selbst.

"Den Wert von Menschen und Diamanten kann man erst erkennen, wenn man sie aus der Fassung bringt" (Nossrat Peseschkian)

Dieser Artikel von Dr. Nawid Peseschkian erschien in Heft 3/2016 unserer GfBK-Mitgliederzeitschrift „momentum - Gesund leben bei Krebs” .

Zum Weiterlesen
Peseschkian, Nawid, Peseschkian, Nossrat: Lebensfreude statt Stress. Trias (2009)
Peseschkian, Nossrat: Der Kaufmann und der Papagei. Fischer (2009)
Peseschkian, Nossrat: Das Geheimnis des Samenkorns: Positive Stressbewältigung. Fischer (2002)

Eine Geschichte zum ganzheitlichen und positiven Vorgehen
Ein orientalischer König hatte einen beängstigenden Traum. Er träumte, dass ihm alle Zähne, einer nach dem anderen, ausfielen. Beunruhigt rief er seinen Traumdeuter herbei. Dieser hörte sich den Traum sorgenvoll an und eröffnete dem König: „Ich muss dir einen traurige Mitteilung machen. Du wirst genau wie die Zähne alle Angehörigen, einen nach dem anderen verlieren.” Die Deutung erregte den Zorn des Königs. Er ließ den Traumdeuter in den Kerker werfen. Dann ließ er einen anderen Traumdeuter kommen. Der hörte sich den Traum an und sagte: „Ich bin glücklich, dir eine freudige Mitteilung machen zu können: Du wirst älter werden als alle deine Angehörigen, du wirst sie alle überleben.” Der König war erfreut und belohnte ihn reich. Die Höflinge wunderten sich sehr darüber. „Du hast doch eigentlich nichts anderes gesagt als dein armer Vorgänger. Aber wieso traf ihn die Strafe, während du belohnt wurdest?”, fragten sie. Der Traumdeuter antwortete: „Wir haben beide den Traum gleich gedeutet. Im Leben kommt es aber nicht nur darauf an, was man sagt, sondern wie man es sagt.”

Zur Person
Dr. med. Nawid Peseschkian ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Psychotherapie. Seit 1998 ist er in eigener Facharztpraxis mit sozialpsychiatrischem Schwerpunkt in Wiesbaden niedergelassen. Er führt Seminare, Vorträge, Kurse und Trainerausbildungen im In- und Ausland durch.
Kontakt
Dr. med. Nawid Peseschkian, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein., www.peseschkian.org


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