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Gefühltes Wissen - Die Kunst, das Unwesentliche zu ignorieren

Zur 30-Jahr-Feier der GfBK war einer der Direktoren des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung angekündigt. In meiner Vorstellung tauchte ein würdevoller Wissenschaftler in korrekt sitzendem Anzug auf. In kindlicher Ehrfurcht erwartete ich, dass der Referent möglicherweise etwas langatmig und in allerlei Fachchinesisch gekleidet Weisheiten verbreitet, von denen der mit durchschnittlicher Intelligenz und normalem Bildungsgrad gesegnete Zuhörer wenig begreifen wird. Als Professor Gigerenzer dann anfing zu sprechen, musste ich mich von dem einen oder anderen Klischee in meinem Kopf verabschieden.

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Bauchentscheidungen heißt das Thema. Ihnen eilt nicht gerade der Ruf von Wissenschaftlichkeit voraus, drum ist es umso spannender, dass eine renommierte Einrichtung wie das Max-Planck-Institut genau daran forscht. Um gleich ein Vorurteil aus dem Weg zu räumen: Es geht nicht darum, frei von Wissen zu sein und dann aus dem hohlen Bauch heraus irgendetwas zu entscheiden. Gemeint sind Entscheidungen, denen durchaus Erfahrungswerte zugrunde liegen. Nehmen wir ein Beispiel von Professor Gigerenzer:

Das Wunder vom Hudson-River und andere

Woher wussten die Piloten, die 2009 im Hudson-River notwasserten, dass sie es nicht bis zum Tower schaffen würden? Sie hatten keine Zeit, Berechnungen anzustellen und verschiedene Szenarien zu betrachten. Sie beobachteten den Tower vom Cockpit aus, während sie sich auf ihn zu bewegten und sahen, dass das Gebäude in der Windschutzscheibe immer weiter nach oben rückte. Damit war klar, dass sie mit den ausgefallenen Turbinen den Flugplatz nicht erreichen konnten. Sie griffen auf eine ganz einfache Faustregel zurück und retteten damit Hunderte von Menschenleben. Heuristiken nennt man solche Faustregeln.
Die gleiche Heuristik verwenden Football-Spieler, wenn sie einen Ball fangen wollen. Natürlich kann man die Flugbahn mathematisch genau berechnen, wenn man den Winkel und die Kraft kennt, mit der der Ball seinen Flug beginnt. Ach ja, und der Spin spielt noch eine Rolle. Auch die Windverhältnisse sind zu berücksichtigen. Ein Physiker kann so etwas ausrechnen. Erfolgreiche Football-Spieler müssen trotzdem keine begnadeten Naturwissenschaftler oder Meister des Kopfrechnens sein. Sie rennen einfach los und zwar so, dass ihr Blickwinkel zum Ball während des Laufs der gleiche bleibt. Fragen Sie mal einen Football-Spieler, wie genau er es schafft, den Ball zu fangen. Wahrscheinlich wird er es Ihnen nicht erklären können. Solche Dinge tun wir in der Regel »aus dem Bauch heraus«. Wir berücksichtigen durchaus das, was wir aus unserer Erfahrung gelernt haben, sind uns dessen aber gar nicht gewahr. Wir wissen es einfach. Und dieses unbewusste Wissen ist stark genug, einen kraftvollen Handlungsimpuls zu setzen, ohne dass sich uns spontan die Gründe dafür erschließen. Intuition heißt das auf neudeutsch.

Wann ist der Bauch dem Kopf überlegen?

Es braucht also für Bauchentscheidungen keine analytische Auswertung sämtlicher Daten. Wichtig ist, dass man eine Faustregel findet, die ein paar wenige und einfache, aber wesentliche Faktoren einbezieht. Das ist nicht nur oft ausreichend, sondern sogar in bestimmten Fällen treffsicherer als das Berücksichtigen aller Daten. Der Nobelpreisträger Harry Markowitz hat eine komplizierte Formel entwickelt, mit deren Hilfe Entscheidungen zu Geldanlagen getroffen werden können. Die preisgekrönte Formel spielte bei seinen privaten Investitionsentscheidungen allerdings keine Rolle. Da verteilte der Wissenschaftler das Vermögen gleichmäßig über die infrage kommenden Anlageformen. Aha.
Natürlich gibt es auch Situationen, in denen es essenziell ist, eine »vernünftige« Entscheidung zu treffen. In welcher Situation aus dem Bauch heraus und in welcher anhand von Analysen entschieden werden soll, auch darauf hat Professor Gigerenzer eine Antwort: Faustregeln sind überlegen, wenn die Anzahl der Möglichkeiten groß ist, die Datenmenge unüberschaubar und die Vorhersagbarkeit gering. Bei der Wahl des Lebenspartners käme man beispielsweise kaum auf die Idee, eine Entscheidungsmatrix zu erstellen und die Auswahlkriterien mit Gewichtungsfaktoren zu belegen.

Wenn Entscheider sich selber schützen

Bei seinen Forschungen zu der Frage, wie Entscheidungen getroffen werden, stießen Professor Gigerenzer und sein Team noch auf ein weiteres interessantes Phänomen: Eine Studie in großen deutschen Unternehmen brachte zutage, dass die überwältigende Mehrzahl der Entscheidungen (93 Prozent) defensiv getroffen wird. Praktisch bedeutet das: Das wichtigste Kriterium für die Entscheidung ist nicht die Überzeugung, dass diese Entscheidung dem Sachziel bestmöglich dient, sondern, dass sie für den Entscheider persönlich möglichst geringe Risiken birgt, weil sie rational besser begründbar ist. Der Entscheider schützt erst mal sich selbst und verfolgt dann Ziele in seiner Funktion als Manager. Das gilt vom Teamleiter bis zum Vorstand.
Mit diesem Forschungsergebnis im Ohr blicke ich auf unser Gesundheitswesen. Ich frage mich, was es bedeutet, wenn Ärzte ihre Patienten als potenzielle Kläger sehen. Wozu führt es, wenn Therapeuten sich zuallererst überlegen, welche Entscheidung sie am wenigsten wahrscheinlich die Karriere, die Gunst des Chefarztes oder die Zulassung kostet und dann gegen die innere Überzeugung handeln …? Mir wird ganz elend zumute.

Was das für die Patienten heißt

In der Beratung der GfBK betonen wir immer wieder nachdrücklich, dass Patienten ihre Entscheidung nicht aus der Angst heraus fällen sollen. Wir raten ihnen, sich die Meinung der Fachleute anzuhören und dann eine Wahl zu treffen, die sich stimmig anfühlt. Wenn aber die Angst des Arztes die Basis seiner Empfehlungen ist, was heißt das für die Auswahl von diagnostischen oder therapeutischen Möglichkeiten? Geht er gemäß seiner Leitlinien vor, ist der Arzt aus dem Schneider. Unkonventionelle Seitenwege mit Ihnen zu gehen, kann er möglicherweise für erfolgversprechend halten, was Ihre Gesundheit angeht. Gleichzeitig sind sie für ihn selber jedoch riskant. Das erklärt, warum noch immer im Gießkannenprinzip Chemotherapie verordnet wird, statt im Einzelfall und wirklich auf den einzelnen Menschen und seine Krankheitssituation bezogen sorgfältig abzuwägen – trotz zahlreicher Studien, die nur marginale Ergebnisse bei vielen Tumorarten liefern.
Für die Nebenwirkungen kann der Arzt nicht verklagt werden. Ist das Medikament erst mal durch die Arzneimittel-Richtlinien legitimiert, nimmt man sie billigend in Kauf. Hauptsache es wurde alles Menschenmögliche getan. Zumindest das, was als Standard-Therapie gilt. Für Bauchentscheidungen bleibt da wenig Raum. Blicken wir über den Atlantik nach Amerika, wo Schadensersatzklagen gegen Ärzte an der Tagesordnung sind, macht das keine Hoffnung für US-amerikanische Patienten.

Eigenverantwortung ist angesagt

Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger, dass Sie selbst ganz bewusst die Verantwortung für Ihre Gesundheit übernehmen. Sie haben Sie sowieso. Wer sonst?! Wenn eine Entscheidung zu einer diagnostischen oder therapeutischen Maßnahme ansteht: Informieren Sie sich, bis Sie ein Bauchgefühl entwickeln können. Und treffen Sie dann eine Entscheidung, zu der Ihr Bauch Ja sagt. Mit der Menge der gesammelten Daten steigt nicht automatisch die Treffsicherheit der Entscheidung – wie uns Herr Professor Gigerenzer eindrücklich gezeigt hat.
Eine Bauchentscheidung zu treffen, kann manchmal auch bedeuten, mehrere Experten zu hören und dann einem bestimmten Fachmann zu vertrauen. Viele von uns kaufen so ihr Auto oder schließen auf diese Weise ihre Lebensversicherungen ab. Einem Verkäufer, zu dem Sie kein Vertrauen haben, der Sie nicht respektvoll und aufmerksam behandelt, würden Sie nicht mal einen Gebrauchtwagen abkaufen. Warum vertrauen manche Patienten ihr Leben einem Arzt an, der auf sie keinen zugewandten oder persönlich interessierten Eindruck macht?

Was ist wesentlich?

Für den Krebspatienten ist heute dank Internet und anderen Informationsquellen im Allgemeinen nicht der Mangel an Informationen das Problem. Doch das für sie Wesentliche herauszufinden fällt den medizinischen Laien angesichts der unüberschaubaren Datenfülle schwer. Der Beratungsdienst der GfBK hilft Ihnen, die vielen Informationen in Zusammenhang mit Ihrer persönlichen Situation zu bewerten und zu strukturieren.
Nutzen Sie diese Entscheidungshilfe, machen Sie sich schlau, und fällen Sie dann Beschlüsse, die sich für Sie stimmig anfühlen. Auch das Treffen von Bauchentscheidungen kann man üben. Wenn Sie anschließend nachspüren, wie es Ihnen mit der Bauchentscheidung geht, entwickeln Sie mit der Zeit ein Gefühl dafür, wann Sie damit gut fahren. Wir leben in einem System, in dem dank Leitlinien-Denken wenig Raum für mutige Wege mit individuellen Entscheidungen zu sein scheint. Und doch haben Sie immer die Wahl. Seien Sie sich dessen bewusst. Und lassen Sie sich nicht durch defensive Entscheidungen seitens der Therapeuten verunsichern. Wenn es um Ihre Gesundheit geht, sind Sie der Entscheider und nur Ihr Wohlergehen ist das Maß der Dinge.

Zum Weiterlesen: Gigerenzer, Gerd »Bauchentscheidungen – Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition«, Goldmann

Zur Person: PetRa Weiß ist medizinische Heilpraktikerin und Traumatherapeutin, sie ist in eigener Praxis niedergelassen. Außerdem arbeitet sie als Medizinjournalistin. Gemeinsam mit Dr. med. Peter Vill hat sie das Buch „Gesundheit gestalten mit den 4 Elementen” veröffentlicht. Für die Gesellschaft für Biologische Krebsabwehr e.V. betreut sie die Mitgliederzeitschrift momentum-gesund leben bei Krebs redaktionell. Sie hält Vorträge und Kurse zu psychologischen und naturheilkundlichen Themen. Im Vorstand von Ganimed (Ganzheit in der Medizin) e.V. und als 2. Vorsitzende des Naturheilvereins Heidelberg und Umgebung e.V. ist sie ebenfalls aktiv.

Kontakt: PetRa Weiß, Peterstraße 9, 69469 Weinheim, www.praxis-lichtblick.eu

Dieser Artikel erschien in Signal, Ausgabe 3/2012


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