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© Silke Kugler

Lebensrucksack

Silke Kugler in momentum 4/2018

Im Alter von 35 Jahren erhält Silke Kugler die Diagnose Brustkrebs. Zu diesem Zeitpunkt ist sie schwanger. Erst zwei Monate zuvor war ihre Schwester an Krebs verstorben. Nun ist sie selbst betroffen. Es fühlt sich an, als trage sie einen Rucksack, gefüllt mit schwerer Last: Steinen der Hoffnungslosigkeit und Angst. Wie es ihr gelingt, wieder ein Maß an Leichtigkeit in ihr Leben einzuladen, berichtet sie im Folgenden.

Für mein Leben gerne bewege ich mich in der freien Natur. Am liebsten bin ich in den Bergen unterwegs. Natürlich darf auf so einer Wanderung ein Rucksack mit Proviant nicht fehlen. Ganz anders verhielt es sich mit dem Rucksack, den ich im November 2011 auf meinen Rücken geschnallt bekam. Gnadenlos wurde er mir übergehängt ohne Rücksicht auf meine vorhandenen Kräfte.

Der erste Stein

Die Last war so gewaltig, dass ich meinen Bodenkontakt augenblicklich verlor, und ich bekam den ersten schweren Brocken mit der Aufschrift „Krebs“ hinein: Meine 36 Jahre alte Schwester hatte Brustkrebs im fortgeschrittenen Stadium. Die ersten Tage danach waren ein Balanceakt für mich, da der Krebsstein mich mit seinem massiven Gewicht immer wieder in die Knie zwingen wollte. Verwundert war ich über das Schild meiner Schwester, das sie an der Tür, die zu ihrem Pflegebett führte, angebracht hatte: „Zutritt nur für Optimisten.″ Darüber hatte sie einen Regenbogen gemalt. Zu gerne hätte ich ihre positive Sicht auf die Zukunft geteilt, aber mit jeder Metastase in Gehirn und Leber kamen weitere schwere Brocken in mein Gepäck. Im Frühjahr 2012 wurde mir schließlich ein gigantischer Brocken mit der Aufschrift „Tod″ in meinen Rucksack gepackt, der mich in einem tiefschwarzen Loch verschwinden ließ.

Meine Schwester schloss am 9. Mai 2012 für immer die Augen. Die Atmosphäre hätte in diesem Augenblick nicht ambivalenter sein können. Auf der einen Seite den Hauch des Todes im Nacken, der sich grinsend an meinem Rucksack zu schaffen machte. Auf der anderen Seite konnte ich ihre Seele fast federleicht davonfliegen sehen. Während ihrer letzten Atemzüge bat ich sie darum, mir ein Himmelszeichen zu senden. Was passte besser zu meiner herzensguten Schwester als ein Regenbogen, den sie mir am Abend ihrer Beerdigung schickte? Tränenüberströmt sammelte ich alle meine Kräfte ein und kletterte mit dem Zugspitzmassiv im Rucksack aus dem Loch Richtung Regenbogen. Meine Schultern waren von dem Schmerz mittlerweile betäubt, aber als ich einmal einen Blick nach hinten wagte, war es mir, als ob die Farben des Regenbogens herausschauten. In diesem Moment konnte ich den Stein der Hoffnungslosigkeit herausnehmen.

Der zweite Stein

Niemals hätte ich geglaubt, dass mein Rucksack noch mehr an Gewicht zulegen könnte, aber zwei Monate später bekam ich erneut einen Stein mit der Aufschrift „Krebs″. Dieses Mal war er für mich bestimmt, für die 35-jährige Silke Kugler, die sich zu diesem Zeitpunkt ungünstigerweise auch noch im zweiten Trimenon ihrer Schwangerschaft befand. Der Tod war in diesen Momenten so präsent, dass ein Weglaufen unmöglich war und ich freiwillig in das Todesloch der Erde sprang, weil ich wusste, dass das Gewicht meines Rucksacks mich sowieso dorthin ziehen würde. Als gehässige Gratiszugabe bekam ich einen Angststein, dessen Last ich förmlich auf meinem Herzen spürte und von dem ich wusste, dass er ein treuer Lebensbegleiter bleiben würde. Mein schwindendes Lebensgefühl und das wachsende Leben meines Babys saßen nun zusammen in einem Boot und mussten vier Chemotherapien durchlaufen, während derer ich wahnsinnige Ängste um mein Ungeborenes ausstand. Als sich nach der ersten Chemiebombe der Tumor bereits um die Hälfte verkleinert hatte, konnte ich einen kleinen Splitter am Angststein entfernen und zur Hoffnungslosigkeit gesellen.

Für die Geburt meiner Tochter nahm ich alle tief in mir schlummernden Kräfte zusammen und schaffte es wundersamerweise, dass sie auf natürlichem Wege das Licht der Welt erblickte. Bei ihrem haarreichen Anblick war ich unendlich erleichtert, und ganz viele weiße Federn kamen in meinen Rucksack, die wie Flügel das Gewicht emporhoben und etwas erträglicher machten.

Meine Haare schlugen sich wacker, aber nach der sechsten Giftbombe war die Glatze unumgänglich. Gemeinsam mit ihnen verlor ich nicht nur ein Stück Würde, sondern auch ein Stück Menschsein. Nun hatte der Krebs es endgültig geschafft, dass er mir auch äußerlich anzusehen war. Ich zog mich noch mehr hinter meine Schutzmauer zurück. Zu einem Zufluchtsort für meine Familie und mich wurde in dieser Zeit ein lauschiger Waldspielplatz. Hier in dieser vogelzwitschernden Idylle konnte ich meinen Rucksack eine Zeitlang absetzen. Sie war wie eine Tankstelle für meinen Körper, meinen Geist und meine Seele. Mit jedem Mal kam ein weißes, luftiges Federgepäck in meinen Rucksack. Schritt für Schritt merkte ich, wie ich mich zu verändern begann: Äußerlich sprossen meine Haare und innerlich nahm ich Mauerstein für Mauerstein herab.

Nach Beendigung meiner letzten Bestrahlung setzte ich einen meiner mutigsten Schritte auf meinem Weg: Obwohl meine Haare bestimmt noch keine zwei Zentimeter maßen, trat ich ohne Kopfbedeckung aus meiner Kabine. Da ich den gewaltigen Glatzenstein dort zurückließ, konnte ich federnd wie auf einem Laufsteg durch die Tür in mein Leben ohne Tumortherapien schreiten. Ich war beschwingt und voller Lebenshunger. Die zwar immer noch vorhandenen Steine in meinem Rucksack hielten sich mit dem regenbogenbunten Federgepäck die Waage, und es gab Tage, an denen ich mir der Existenz dieses Rucksacks gar nicht bewusst war.

Hinter dem Regenbogen geht es weiter

Es war mein Vater, der die Idee hatte, ob ich meine Geschichte nicht zu Papier bringen wollte. Mit einigem Zögern setzte ich mich an den Laptop, weil ich Angst hatte vor dem, was da so alles in meinem Inneren schlummerte. Würde die hauchdünne Membran, die sich über meine psychischen Wunden gelegt hatte, durch das Schreiben aufbrechen? Doch wie heilsam erwies sich diese Tätigkeit! Wie ein segensreicher Strom floss es aus mir heraus, weil meine Hand die Verlängerung meines Herzens darstellte. Anderntags war ich oft selbst erstaunt über die Worte, die so treffend meine Krankheitsgeschichte beschrieben. Ich stellte fest, dass meine Seele nur heilen konnte, wenn ich nochmals das tiefe Todestal durchlief. Während mein einige hundert Seiten umfassendes Manuskript „Hinter dem Regenbogen geht es weiter″ entstand, wanderten immer wieder Steine aus meinen Rucksack heraus. Als es nach einem Jahr fertig vor mir lag, konnte ich in der Tat einige Splitter des Krebssteins herausholen, da er an seiner Gewaltigkeit etwas eingebüßt hatte. Schreiben war zu einer immensen Heilquelle für mich geworden, aus der ich täglich trank.

Ich war mir sehr unsicher, ob ich mein Werk veröffentlichen sollte, aber da man als unbekannte Autorin sowieso keinen Verlag finden kann, tat ich das, wohin mein Herz mich führte: Ich fing an, Kindergeschichten zu schreiben. Endlich konnte ich meine tief verborgene Kreativität ausleben und sprudelte über vor Ideen. Ich liebte diese heile Kinderwelt, in der es keine Tumorkriegsschauplätze gab. Als ich dann auch noch zu Pinsel und Farben griff, war mein Lebensrucksack zu einem Teil von mir geworden, den ich nur noch wahrnahm, wenn ich meine Aufmerksamkeit darauf lenkte.

Der dritte Stein

Doch mitten in meiner Kreativitätswelle tauchte wie aus dem Nichts der dritte Stein mit der Aufschrift Krebs auf. Ich hatte einen Knoten in der anderen Brust. Der Angststein war von immensem Gewicht, da sich die Ärzte prognostisch zurückhielten. Der Tumor wurde entfernt, und der onkologische Professor sprach sich gegen eine Chemotherapie aufgrund der zeitlichen Nähe zu meiner letzten aus. Wie ein ausgepeitschter Hund humpelte ich nun durch die Welt, dass ich fast die Hand meiner Freundin Lisa übersehen hätte, die sich mir entgegenstreckte und mitzog. Was hätte ich in diesem tiefsten Todestal nur ohne ihren Strohhalm gemacht, an den ich mich wie eine Ertrinkende klammerte?

Du kannst selbst etwas beitragen …

So begann ich mit Heileurythmie, suchte einen anthroposophischen Arzt auf, aß tonnenweise rohen Brokkoli und begann, mich für Wildkräuter zu interessieren. Es tat so gut, sich einfach nur führen zu lassen, weil mir die Kraft für jede Initiative gefehlt hätte. So traf ich auf Menschen, die mir Mut machten. Die mir sagten, dass es in Statistiken Abweichungen nach oben und unten gibt. Dass meine ungewöhnliche, noch nicht erforschte genetische Disposition zu verändern war. Selbstheilungskräfte entwickeln und Epigenetik waren die Begrifflichkeiten, die mir in den Rucksack gepackt wurden, um die Last zu reduzieren. Und immer wieder wisperte eine sanfte Stimme an meinem Ohr, während mein Hochleistungsmixer Löwenzahn, Giersch und Brennnesseln zerschredderte: „Du kannst selbst etwas zu deinem Gesundungsweg beitragen.″ War es die Kraft der Natur oder meine innere, sprudelnde Urquelle, die ich endlich angezapft hatte? Ich merkte, wie sich mein Rückgrat trotz der schweren Last aufrichtete, obwohl ich mich für eine Mastektomie entschieden hatte. Wenn ich dann noch die warmen Hände meiner drei Kinder spürte und sah, wie sie täglich einen Schritt in die Welt hinaussetzten, wusste ich, wofür sich mein Weg lohnte. Auch wenn er an vielen Tagen durch trostlose Einöden ohne Zeichen von Leben führte, schlängelte er sich immer wieder an Federn vorbei. Jedes Mal konnte ich gestärkt weitergehen mit der Gewissheit, dass man auch im härtesten Asphalt ein kraftvoll hervorsprießendes Blümlein finden konnte. War ich gar selbst diese Pflanze? Manchmal war ich erstaunt über die Silke, die früher nur ein Grashalm im Wind gewesen war und die nun Dinge tat, die für sie früher undenkbar gewesen wären. Beispielsweise hielt ich zwischen meinen beiden Operationen die erste Autorenlesung meines Lebens und verließ federnd das Klassenzimmer mit dem Gefühl, dass dies der Beginn einer Herzenssache war. Der Mastektomie sah ich gelassen entgegen.

Federleicht

Allerdings musste ich wieder einen herben Rückschlag erfahren, als der Professor mir mitteilte, dass sich bereits Tumor Nummer drei in meiner Brust eingenistet hatte. Stundenlange Spaziergänge im Wald, Qigong, grüner Smoothie, der alle Tumorzellen ausschwemmte :) und Gespräche mit lieben Menschen halfen mir zu verhindern, dass sich neuer Ballast in meinem Rucksack einfand und der Stein der Hoffnungslosigkeit wieder hineinkam. Ich konnte das Positive daran sehen: Die Entfernung der Brüste war auf jeden Fall die richtige Entscheidung gewesen, da der Krebs sich nie aus diesen Körperteilen zurückgezogen hätte. In unserem Sommerurlaub begab ich mich auf die Suche nach einem geeigneten Namen für unseren Verlag, denn ich hatte mich nun endgültig dafür entschieden, meine Bücher in einem Eigenverlag zu veröffentlichen. Was war da naheliegender als „Federleichtverlag″? Federleichte Bücher zum Davonfliegen.

Es tat so unheimlich gut, ein Ziel vor Augen zu haben. Mit der Ovariektomie (operative Entfernung der Eierstöcke) konnte ich erneut ein paar Angstsplitter von meinem Stein herausnehmen. Nun hatte ich alles in meiner Macht Stehende getan, um den aggressiven Tumorzellen den Nährboden zu nehmen. Nur wer dem Tod in die Augen geblickt hat, kann solche prophylaktischen Maßnahmen verstehen, ohne sie zu verurteilen.

Nun drei Jahre nach meiner Zweitdiagnose fühlt sich mein Leben gefüllt und weich an, so wie das Moosbett, auf dem ich die Steine aus meinem Rucksack platziert habe. Nach einigem Herumprobieren habe ich endlich die für mich tragenden Säulen gefunden: ein tägliches Gesunderhaltungsprogramm aus Yoga, Meditation, Bewegung in der Natur, kreativem Schaffen und noch vielem mehr.

Und wenn die Krebsangstwelle doch einmal droht mich zu überrollen, dann schaue ich einfach nur meine drei Kinder an, und dann kommen ganz viele weiße Federn in meinen Lebensrucksack hinein.

Information zu unseren Betroffenenberichten

Wir freuen uns, wenn Patient:innen ihren individuellen und persönlichen Genesungsweg finden. Das ist ein Ausdruck des großen Heilungspotenzials in jedem Menschen. Gerne teilen wir diese Erfahrungen mit unseren Leser:innen, auch wenn persönliche Entscheidungen nicht immer auf andere Betroffene übertragbar sind. Sie entsprechen auch nicht in jeder Hinsicht einer konkreten Empfehlung der GfBK für Patient:innen in ähnlicher Situation. Wägen Sie sorgfältig ab, welche Impulse aus den Patient:innenberichten für Sie in Ihrer aktuellen Lage passend sind. Besprechen Sie diagnostische oder therapeutische Maßnahmen im Zweifel gerne mit unserem ärztlichen Beratungsdienst.

©iStock, 1210358928, nortonrsx
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