
Krebsdiagnose - kann, soll, muss ich dankbar sein?
2012 traf mich im Alter von 58 Jahren die Diagnose „Pankreaskrebs“. Zunächst Schockstarre. Dann vier Wochen Chemo-und Strahlentherapie, gefolgt von einer zehnstündigen Operation mit Totalentfernung von Pankreas, Gallenblase, Zwölffingerdarm, Milz, Gekröse – das große Bauchnetz, zwei Drittel des Magens, Magenpförtner, ein Drittel des Dünndarms. Wegen eines Darminfarktes während der Operation wurde die Hälfte des Dickdarms entfernt und ein künstlicher Ausgang (Anus praeter) angelegt. Danach folgten zwei Monate lang Bestrahlung und eine sechswöchige Chemotherapie. Das war vor 12 Jahren. Vor vier Jahren (2020) erfolgte die Diagnose „Knochenkrebs“, eine Spätfolge der Bestrahlung. Vor zwei Jahren (2022) dann eine Kiefernekrose als Folge der Knochenkrebsbehandlung mit Bisphosphonaten.
Wie geht es mir? Den Umständen entsprechend sehr gut. Ich kann Sport treiben und mich so bewegen, dass es mir Spaß macht.
Bin ich dankbar? Ja, sehr dankbar. Ich fühle mich aber nicht von irgendjemandem oder irgendetwas gedrängt, dankbar zu sein.
Wem gegenüber und für was bin ich dankbar?
▶ den Mitmenschen für die spontanen Umarmungen und ihre Freude, nachdem sie mich nach meinen Klinikaufenthalten wiedergesehen haben
▶ meiner Ehefrau Gaby, die mich unterstützt, obwohl ich öfter mal schwierig und launisch bin
▶ meinen Kindern Lena und Julian, dass sie ihr eigenes Leben führen und – auf meinen Wunsch hin – nicht meine Krankheit in den Mittelpunkt des Lebens stellen und dass ich ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen darf
▶ meinen Enkelkindern, dass ich mit ihnen und sie mit mir viel Spaß haben können
▶ mir selbst, dass ich selbstständig und frei entscheidend leben und dass ich soziale Kontakte wahrnehmen kann
▶ meinen Körperzellen, dass sie mir helfen, ordentlich leben zu können; dass ich mental Verbindung mit dem Körper herstellen kann; dass ich zum Beispiel ein Lächeln in Richtung der Schmerzen oder der Problemzonen schicken oder das Immunsystem bitten kann, in bestimmten Körperregionen besonders aktiv zu werden; dass die Zellen mir dann helfen, einen gewissen körperlichen und geistigen Fitnesslevel aufrechtzuerhalten
▶ dem Leben, der Natur, den Menschen, dass ich mich in diesem Kosmos bewegen darf
▶ dafür, dass ich überhaupt an dem Leben auf dieser Welt – mit all seinen schönen und traurigen Ereignissen – weiterhin teilnehmen darf
Wenn ich mich für dies alles bedanke, wird mir mein Dasein bewusster und stimmt mich positiv. Deshalb bedanke ich mich jeden Tag.
Zur Person
Arno Ferchow lebt heute als aktiver Familienmensch im Ruhestand. Von seiner fortgeschrittenen Krebserkrankung der Bauchspeicheldrüse, von der Therapie und vielfältigen Eigenaktivitäten hat er bereits 2018 momentum berichtet. Er konnte sich seine Lebensqualität zurückerobern und hat nach zwei Jahren auch die Lehrtätigkeit wieder aufgenommen. Der Krebs ist zurückgekehrt, und das Thema Dankbarkeit ist keine Selbstverständlichkeit.
Dankbarkeit - ein großes Wort...
Dieser Text war im Original in unserer Mitgliederzeitschrift „momentum - gesund leben bei Krebs” (Ausgabe 04/2024). Diese Einleitung zu dem obigen Text schrieb für die in dieser Ausgabe vorgestellten vier Patient:innen, Julia Malcherek.
...„danke" kommt alltäglicher, handlicher daher. Eine Suche im Internet macht auf einen Blick klar: Von der buddhistischen Praxis bis zum christlichen Bischof, von der Karrierebibel bis zu einer großen Krankenkasse reicht die Spannweite der Instanzen, die der Algorithmus für relevant hält. Aus meinem eigenen Erleben halte ich fest: Dankbarkeit ist eine Empfindung, ich freue mich über etwas und stelle fest, dass es nicht selbstverständlich ist. Meine Freude und auch meine Überraschung machen mich auf etwas Positives aufmerksam, ich richte meine Aufmerksamkeit aus und … bin dankbar? Nein, so einfach ist es nicht. Es gibt nicht nur das Positive, es gibt viel Leid, viel Negatives in der Welt, vielleicht auch in meinem Leben. Erst einmal muss ich es aushalten, dass beides da ist: das Gute, über das ich mich freue, das mich aufleben lässt, das Negative, das mir Angst macht oder mich bedroht. Wohin richte ich meine Aufmerksamkeit?
Gerade Patient:innen, die von Krebs betroffen sind, machen diese spannungsreiche, widersprüchliche Erfahrung: Sie erleben eine manchmal zutiefst bedrohliche Situation, dennoch entdecken sie Momente und Gelegenheiten, dankbar zu sein, und oft sind sie dafür dankbar, die Dankbarkeit neu zu entdecken. Offensichtlich wird dieser Empfindung sogar von Menschen, die am eigenen Leib erfahren haben, dass ihr Leben bedroht ist, eine heilsame Wirkung zugesprochen.
Können wir dann nicht einfach auf unserer Suche nach Gesundheit uns selbst Dankbarkeit verordnen und das Dankbarsein trainieren? Ja und nein. Das Wichtigste: Die Dankbarkeit ist eine ehrliche Empfindung, auch wenn sie sich mit Angst, Wut und Sorgen abwechselt oder mischt. Die ehrliche Dankbarkeit, die sich manchmal auch klein und unscheinbar anfühlt, können wir pflegen, man kann sie einüben, und dabei kann man Disziplin gelegentlich gut gebrauchen. Doch bei allem Bemühen: Dankbarkeit lässt sich nicht erzwingen, wir haben keine Garantie auf diese Empfindung, dass sie sich einstellt und uns beglückt.
Aufmerksam sein, hinschauen, wenn sie aufblitzt, ohne die Tiefen auszublenden. Davon berichten die vier Betroffenen, die hier ihre Erlebnisse mit der Dankbarkeit teilen: wie die Dankbarkeit zu ihnen gekommen ist und was sie tun, um sie zu pflegen. Wir möchten uns – wie für die ausführlichen Berichte, die Sie sonst an dieser Stelle lesen – bei allen für diese sehr persönlichen Einblicke von Herzen bedanken. Sie zeigen uns, wie Dankbarkeit mit Widrigkeiten zurechtkommt, wem sie dankbar sind und wie ehrliches „Danke“-Sagen den Alltag verändert.
Wir freuen uns, wenn Patient:innen ihren individuellen und persönlichen Genesungsweg finden. Das ist ein Ausdruck des großen Heilungspotenzials in jedem Menschen. Gerne teilen wir diese Erfahrungen mit unseren Leser:innen, auch wenn persönliche Entscheidungen nicht immer auf andere Betroffene übertragbar sind. Sie entsprechen auch nicht in jeder Hinsicht einer konkreten Empfehlung der GfBK für Patient:innen in ähnlicher Situation.
Wägen Sie sorgfältig ab, welche Impulse aus den Patient:innenberichten für Sie in Ihrer aktuellen Lage passend sind. Besprechen Sie diagnostische oder therapeutische Maßnahmen im Zweifel gerne mit unserem ärztlichen Beratungsdienst.
Möchten Sie auch anderen Patient:innen mit Ihrem Bericht Mut machen?
Dann mailen Sie uns unbedingt Ihre Geschichte.
Senden Sie diese an Julia Malcherek: