
Dankbarkeit
Meine erste bewusste Begegnung mit dem Thema Dankbarkeit geschah in einer tiefen Lebenskrise. Ich hatte meinen Massagelehrer, Freund und langjährigen Begleiter in allen Lebenslagen aufgesucht. Wir sprachen ausführlich über meine verzweifelte Lage und meine Angst, nicht mehr aus diesem tiefen Tal herauszukommen.
Er gab mir eine Aufgabe mit: Schreibe jeden Morgen drei Dinge auf, für die du dankbar bist. Meine erste Reaktion war Wut. Was hatte das mit meinen Problemen zu tun?
Aber ganz die pflichtbewusste Schülerin über viele Jahre und im Vertrauen, dass diese Übung irgendeinen Sinn ergeben wird, fing ich an, jeden Morgen zu überlegen und aufzuschreiben: drei Dinge, für die ich dankbar bin. Es war eine intensive Übung. Manchmal kamen mir die Tränen angesichts der Erkenntnis, dass ich vieles in meiner Krise übersehen hatte. Ich war allzu fokussiert auf mein Drama und die ständig kreisenden Gedanken, dass nur ich leide und niemand mein Dilemma wirklich verstehen könne. Doch langsam weitete sich mein Blickwinkel: weg vom Leiden, hin zu dem, was mich trägt und mir guttut.
In den Folgejahren wurde ich zur aktiv praktizierenden Buddhistin. Im Buddhismus ist das Thema Dankbarkeit ein wesentlicher Bestandteil der Praxis. Da ist zum einen die Dankbarkeit für mein Dasein, die Dankbarkeit für mein Leben in all seinen Facetten und auch in den kritischen Phasen, die Dankbarkeit für die Menschen, die für mich da sind. Dann kam die Krebsdiagnose. Es war kein Schock, wie es meistens dargestellt wird. Nein, mein erster Gedanke war, dass mein Leben gut ist und dass ich ein großes Netzwerk an Menschen um mich habe, die mich auf meinem Weg zur Heilung unterstützen würden. Vor allem aber wusste ich inzwischen um die tägliche Unterstützung meiner Meisterin und die Kraft meiner täglichen Praxis. Ich musste voller Dankbarkeit lächeln angesichts der Fülle, die mir nach der Diagnose zum ersten Mal richtig bewusst wurde. Ich war sicher, dass ich alles, was mir auf meinem Heilungsweg auferlegt werden würde, meistern würde.
Heute weiß ich noch mehr über das, was uns heilt, gesund macht und gesund erhält: sportliche Bewegung, gesunde Ernährung, eine positive Lebenseinstellung, ein stabiles soziales Netzwerk, eine spirituelle Basis. Es war alles da, ich musste um nichts kämpfen, mich neu orientieren oder Neues lernen. Ich konnte mich ganz auf meine Heilung konzentrieren, weil ich alle Heilungsfaktoren bereits seit vielen Jahren in mein Leben integriert hatte. Wie wunderbar! Noch heute bin ich regelrecht überwältigt von Dankbarkeit, dass vieles in meinem Leben schon da war, ohne dass ich wusste, wie wichtig es einmal werden würde. Dankbarkeit ist zu einer täglichen, ganz selbstverständlichen Übung geworden, die meinen Fokus immer wieder aufs Neue positiv ausrichtet, weg vom Drama, hin zu den Geschenken des Lebens. Dankbarkeit ist ein wundervolles Werkzeug, das hilft zu erkennen, dass es viele Gründe gibt, glücklich zu sein – viel mehr, als wir denken.
Was ist Dankbarkeit? Ein Gedanke, ein Gefühl, ein Bild, eine Idee, ein Loslassen, eine Neuausrichtung, eine Aktion? Ich glaube, es ist alles das in unterschiedlichen Variationen. Vielleicht ist da erst der Gedanke, und je tiefer ich mich mit dem Gedanken verbinde, desto intensiver kann Veränderung stattfinden, im Innern wie im Außen. Und da ist die Stille, aus der die Kraft entsteht, Dinge zu verändern, den Fokus neu auszurichten, loszulassen oder Neues zu beginnen. Ich habe immer die Wahl, mich für das zu entscheiden, was mir guttut und mich stärkt.
Zur Person
Gabriele Ruys konnte auf viele wertvolle Ressourcen zurückgreifen, als sie die Diagnose Brustkrebs erhalten hat: eigene Fähigkeiten, die buddhistische Weisheit und der Beistand ihrer Gemeinschaft, wie sie in der momentum 2021 berichtet hat. TouchLife Massage Praktikerin und Yogalehrerin hat viele gute (Bewegungs-)Gewohnheiten auch während der Therapie beibehalten können. Sie weiß, dass Dankbarkeit manchmal Überwindung braucht und sich nach schwerer Arbeit anfühlen kann.
Dankbarkeit - ein großes Wort...
Dieser Text war im Original in unserer Mitgliederzeitschrift „momentum - gesund leben bei Krebs” (Ausgabe 04/2024). Diese Einleitung zu dem obigen Text schrieb für die in dieser Ausgabe vorgestellten vier Patient:innen, Julia Malcherek.
...„danke" kommt alltäglicher, handlicher daher. Eine Suche im Internet macht auf einen Blick klar: Von der buddhistischen Praxis bis zum christlichen Bischof, von der Karrierebibel bis zu einer großen Krankenkasse reicht die Spannweite der Instanzen, die der Algorithmus für relevant hält. Aus meinem eigenen Erleben halte ich fest: Dankbarkeit ist eine Empfindung, ich freue mich über etwas und stelle fest, dass es nicht selbstverständlich ist. Meine Freude und auch meine Überraschung machen mich auf etwas Positives aufmerksam, ich richte meine Aufmerksamkeit aus und … bin dankbar? Nein, so einfach ist es nicht. Es gibt nicht nur das Positive, es gibt viel Leid, viel Negatives in der Welt, vielleicht auch in meinem Leben. Erst einmal muss ich es aushalten, dass beides da ist: das Gute, über das ich mich freue, das mich aufleben lässt, das Negative, das mir Angst macht oder mich bedroht. Wohin richte ich meine Aufmerksamkeit?
Gerade Patient:innen, die von Krebs betroffen sind, machen diese spannungsreiche, widersprüchliche Erfahrung: Sie erleben eine manchmal zutiefst bedrohliche Situation, dennoch entdecken sie Momente und Gelegenheiten, dankbar zu sein, und oft sind sie dafür dankbar, die Dankbarkeit neu zu entdecken. Offensichtlich wird dieser Empfindung sogar von Menschen, die am eigenen Leib erfahren haben, dass ihr Leben bedroht ist, eine heilsame Wirkung zugesprochen.
Können wir dann nicht einfach auf unserer Suche nach Gesundheit uns selbst Dankbarkeit verordnen und das Dankbarsein trainieren? Ja und nein. Das Wichtigste: Die Dankbarkeit ist eine ehrliche Empfindung, auch wenn sie sich mit Angst, Wut und Sorgen abwechselt oder mischt. Die ehrliche Dankbarkeit, die sich manchmal auch klein und unscheinbar anfühlt, können wir pflegen, man kann sie einüben, und dabei kann man Disziplin gelegentlich gut gebrauchen. Doch bei allem Bemühen: Dankbarkeit lässt sich nicht erzwingen, wir haben keine Garantie auf diese Empfindung, dass sie sich einstellt und uns beglückt.
Aufmerksam sein, hinschauen, wenn sie aufblitzt, ohne die Tiefen auszublenden. Davon berichten die vier Betroffenen, die hier ihre Erlebnisse mit der Dankbarkeit teilen: wie die Dankbarkeit zu ihnen gekommen ist und was sie tun, um sie zu pflegen. Wir möchten uns – wie für die ausführlichen Berichte, die Sie sonst an dieser Stelle lesen – bei allen für diese sehr persönlichen Einblicke von Herzen bedanken. Sie zeigen uns, wie Dankbarkeit mit Widrigkeiten zurechtkommt, wem sie dankbar sind und wie ehrliches „Danke“-Sagen den Alltag verändert.
Wir freuen uns, wenn Patient:innen ihren individuellen und persönlichen Genesungsweg finden. Das ist ein Ausdruck des großen Heilungspotenzials in jedem Menschen. Gerne teilen wir diese Erfahrungen mit unseren Leser:innen, auch wenn persönliche Entscheidungen nicht immer auf andere Betroffene übertragbar sind. Sie entsprechen auch nicht in jeder Hinsicht einer konkreten Empfehlung der GfBK für Patient:innen in ähnlicher Situation.
Wägen Sie sorgfältig ab, welche Impulse aus den Patient:innenberichten für Sie in Ihrer aktuellen Lage passend sind. Besprechen Sie diagnostische oder therapeutische Maßnahmen im Zweifel gerne mit unserem ärztlichen Beratungsdienst.
Möchten Sie auch anderen Patient:innen mit Ihrem Bericht Mut machen?
Dann mailen Sie uns unbedingt Ihre Geschichte.
Senden Sie diese an Julia Malcherek: